Woher Du auch kommst...: Herkunft in der Literatur
Viele Autorinnen und Autoren sind an mehreren Orten und in verschiedenen Sprachräumen zu Hause. Aus dieser Perspektive können spannende und aufrüttelnde Geschichten entstehen - hier einige Empfehlungen.
Migrationserfahrungen und Erlebnisse in unterschiedlichen Kulturen spiegeln sich auch in der Literatur wider. Die Literaturredaktion von NDR Kultur empfiehlt hier Bücher zum Thema "Herkunft" in der Literatur.
Dana von Suffrin: Schwebendleicht und lustig erzählt
von Alexander Solloch
Dringend empfehle ich Ihnen das Gesamtwerk von Dana von Suffrin! Keine Sorge, das ist sehr schnell gelesen, denn Dana von Suffrin ist zwar gegenwärtig eine der originellsten, abenteuerlustigsten und faszinierendsten deutschen Schriftstellerinnen, aber doch auch so jung, dass sie bislang erst zwei Romane vorgelegt hat. Sie heißen "Otto" und - gerade eben erschienen - "Nochmal von vorne" und erzählen von jungen Menschen, denen ihre Eltern und die Geschichte eine Herkunftsverwirrung in die Wiege gelegt haben, die sie gehörig ausbremst beim Versuch, fröhlich und auf eigene Faust das ganz eigene Leben auszuprobieren. Was heißt es heute, Jüdin zu sein, Jüdin in Deutschland, Deutsche in Israel? Wie schafft man’s, nicht zerrissen zu werden von all den Erwartungen der Verwandtschaft, der Gesellschaft? Schwebendleicht und lustig schreibt Dana von Suffrin von der Beschwernis, die darin liegt, eine Herkunft zu haben.
Abbas Khider: Ein Buch, wie eine Ohrfeige
von Maren Ahring
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich jemals eine echte Ohrfeige bekommen habe - glaube aber nicht. Eine literarische Ohrfeige dagegen schon. 2016 - verpasst von dem aus dem Irak stammenden Schriftsteller Abbas Khider. "Ohrfeige" heißt nämlich sein Buch. Darin schlägt ein abgelehnter Asylbewerber seine Sachbearbeiterin und fesselt sie an einen Stuhl - einfach, damit sie ihm mal in Ruhe zuhört. Er erzählt ihr von seiner Flucht aus dem Irak, aber vor allem auch von den Zuständen in der Unterkunft, in der er haust - der Angst, der Hoffnungslosigkeit. Das Buch hat bei mir damals einen Aha-Effekt ausgelöst, als ganz Deutschland über die Flüchtlingskrise diskutierte - ein Text über Herkunft und Heimatlosigkeit.
Sabrina Janesch: Großartiger Roman über hartes Leben in Kasachstan.
von Anna Hartwich
Kasachstan, wo liegt das eigentlich genau? Ein großer Staat in Zentralasien, ehemalige Sowjetunion, oder? Das Schicksal der Deutschen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dorthin zwangsweise ausgesiedelt wurden, ist ein eher unbekanntes Kapitel der deutsch-russischen Geschichte. Sabrina Janesch erzählt in "Sibir" vom Leben ihres Vaters, ein deutscher Junge aus dem Wartheland, der seine harte Kindheit in der Weite der Steppe verbrachte. Kasachische Muslime, Russen, Deutsche - wer ist Freund, wer Feind? Janesch erzählt aber auch vom Leben der Tochter Leila, aufgewachsen in Niedersachsen, die des Vaters Geschichten von Schneestürmen, Erdhütten und wundersamen Mythen aufschreibt, um zu verstehen und zu bewahren, was sie prägt - faszinierend, großartig.
Marica Bodrožić: Die Vergangenheit bestimmt unsere Gegenwart
von Joachim Dicks
In tiefer Nacht die Sterne zum Leuchten bringen, das kann wohl niemand so kraftvoll und schön wie Marica Bodrožić. Die Nacht steht bei ihr auch für Herkunft, für die dunklen und strahlenden Seiten einer Kindheit, die sie in Dalmatien bei ihrem Großvater verbrachte, bevor sie als 10-jährige 1983 nach Deutschland kam. Es gibt kaum ein Buch, in dem sie ihre Herkunft nicht heraufbeschwört, um sich und uns immer wieder bewusst zu machen, wie sehr die Vergangenheit unsere Gegenwart bestimmt - zuletzt in "Mystische Fauna" und "Die Rebellion der Liebenden". Zwischen den Zeilen flüstert sie uns dabei ins Ohr: Woher du auch kommst, du bist mit Allem verbunden. Dafür danke ich immer wieder.
Nino Haratischwili: Ein Roman, der wehtut
von Katja Weise
Um Georgien, ihr Herkunftsland, hat Nino Haratischwili lange einen Bogen gemacht. Doch dann kam "Das achte Leben", ein Roman von enormer Wucht, in dem sie tief eintaucht in die Geschichte einer georgischen Familie im 20. Jahrhundert - eine Spurensuche auch für die Autorin. Faden für Faden verwebt Haratischwili geschickt persönliches Schicksal und politische Geschichte. Wer könnte Stasia vergessen, die Tochter des einst reichen Schokoladenfabrikanten, so zerbrechlich und doch so stark oder Kitty, der das Regime das ungeborene Kind nimmt. Ja, der Roman tut weh, es gibt Passagen, wie diese, die kaum auszuhalten sind. Es geht um Folter und Repression, Widerstand, eine übermächtig erscheinende Staatsmacht und doch: Das Buch aus der Hand zu legen, ist unmöglich. So spannend, so mitreißend, so wütend erzählt Nino Haratischwili.
Ilija Trojanow: Wundervoller Debütroman von 1996
von Jürgen Deppe
Egal, wie beschissen der Ort und die Verhältnisse deiner Herkunft auch sind, sei dir sicher: "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall!" Der Titel von Ilija Trojanows wundervollem Debütroman aus dem Jahr 1996 ist auch seine wundervolle Message. Da flieht der heranwachsende Alex mit seinen Eltern aus dem realsozialistischen Grauen Bulgariens ins reale Grauen des italienische Flüchtlingslager Pelferino - flieht: mit null Perspektive. Bis Bai Dan erscheint, gleicher Herkunft wie Alex, aber ganz anderen Temperaments. Bai Dan ist Alex‘ hochbetagter Taufpate, ein kauziger Hasardeur und leidenschaftlicher Backgammon-Spieler. Zusammen brechen sie auf - mit einem Tandem. Alex vorn muss trampeln, Bi Dan klopft hinten kluge Sprüche. So erkunden sie zusammen die ganze Welt. Denn, ja, die Herkunft sitzt dir immer im Nacken, aber: Die Welt ist groß und Rettung lauert überall.