Autorin Nino Haratischwili: Freiheit bedeutet auch Verantwortung
Beim Symposium "Europa 24" im Hamburger Literaturhaus sprechen im Vorfeld der Europawahl zwölf Autorinnen und Autoren über die Gegenwart und Zukunft Europas. Nino Haratischwili ist als deutsch-georgische Schriftstellerin dabei.
Frau Haratischwili, Georgien gehört nicht zur EU, ist aber seit Dezember Beitrittskandidat. Sie haben Ihr Leben und Ihr Arbeiten immer mit einem Fuß in Georgien und mit einem Fuß in Deutschland verbracht. Was hat das mit Ihrem Blick auf Europa gemacht?
Nino Haratischwili: Es ist ganz sicher ein Weg mit vielen Herausforderungen und auch keinesfalls bequem. Aber es bietet auch sehr viele Vorteile, weil man automatisch eine gewisse Außenperspektive hat. Man ist zwar ein Teil der Gesellschaft hier und dort, und gleichzeitig ist man auch mit einem Fuß irgendwie draußen. Das ist manchmal im Alltag schwierig, auch anstrengend, weil permanent diese Konfrontation stattfindet, weil man immer auf diese Identität heruntergebrochen wird beziehungsweise immer diese Frage kommt: Was bist du, wer bist du? Gleichzeitig zwingt das einen, sich permanenten in dieser Auseinandersetzung zu befinden. Ich habe mich langsam damit arrangiert, dass man diese etwas merkwürdige Perspektive einnimmt oder auch so eine Außenseiterposition hat. Aber das ermöglicht mir auch gewisse interessante Sichtweisen - zumindest möchte ich das glauben.
Was ist der größte Gewinn, den Sie als Autorin wahrnehmen in Bezug auf die EU?
Haratischwili: Es ist natürlich in meinem Fall unerlässlich die Meinungsfreiheit, die Wortfreiheit, dass man sagen und schreiben kann, was man denkt und will - so unbequem es auch sein mag. Etwas, was man für selbstverständlich halten kann, es aber vielerorts leider immer noch nicht ist. Es ist natürlich auch die Würde eines jeden Menschen. Für mich ist es die Freiheit, die das Leben erst lebenswert macht oder auch auf eine Art vollständig, vollkommen. Und Menschenrechte, natürlich auch Demokratie, das Mitbestimmungsrecht, dass man als ein Teil der Gesellschaft sie auch mitgestaltet und nicht alles fremdbestimmt wird über irgendwelche obere Instanzen, dass man mitwirken kann. Es ist mir aber auch durchaus bewusst, dass all diese Prozesse sehr fragil sind, dass man Dinge, die man im Alltag vielleicht für selbstverständlich hält, immer wieder überprüfen muss und immer wieder auch sich selbst überprüfen muss. Das ist auch sehr viel Verantwortung. Ich finde, frei zu leben und frei zu sein, ist nicht einfach nur eine Komfortzone, sondern es bedarf auch sehr viel Eigenverantwortung. Ich glaube, man könnte sehr lange noch so weitermachen. Es gibt sehr viele Werte, die ich teile, die ich mit meiner Identität, mit meiner Erziehung, auch mit Georgien auf eine Art verbinde, und das ist, wo ich die Brücke auch sehe.
Viel nachgedacht über Europa wird auch bei dem Symposium, bei dem Sie dabei sind. Die eingeladenen Autorinnen und Autoren bringen jeweils Statements zur Frage "Was ist Literatur?" mit. Warum gibt es so unterschiedliche Meinungen zu dieser Frage?
Haratischwili: Es ist ja durchaus wichtig, dass man auch diese Fragen stellt und dass es unterschiedliche Meinungen dazu gibt und geben soll. Es gibt schließlich irrsinnig viele unterschiedliche Herangehensweisen, wie man schreibt, was man schreibt, aus welchen Impulsen Literatur entsteht und was man damit erreichen möchte. Darüber zu reden, halte ich für wichtig, Das ist ein lebendiger und auch wirksamer Prozess. Für mich als Autorin ist es zum Beispiel sehr wichtig, dass ich mich mit dem Schreiben weiterentwickeln kann, dass ich Dinge neu ausprobiere, dass ich irgendwie weiterkomme, auch mich selbst überrasche, letztlich etwas Neues dazulerne, und in diesem Ausprobieren hoffentlich auch die Leser erreiche. Ich finde, das ist ein sehr wichtiger Prozess, dass man sich da nicht ausruht und zurücklehnt.
Mit welchen Wünschen gehen Sie in das Hamburger Symposium?
Haratischwili: Ich bin grundsätzlich erstmal sehr offen und neugierig. Eine ganz konkrete Vorstellung, was wir da machen, habe ich noch nicht. Die Diskussion wird interessant und spannend, der Austausch mit Kollegen, das finde ich aufregend. Aber was wir zum Beispiel in diesen Workshops entwickeln, wie das ablaufen wird, dazu habe ich selber noch gar keine genaue Vorstellung. Ich lasse mich da einfach überraschen.
Ein Blick auf Georgien: Trotz massiver Proteste hat das georgische Parlament ein umstrittenes Gesetz zur stärkeren Kontrolle der Zivilgesellschaft gebilligt. In Georgien brodelt es, wie auch an vielen anderen Stellen in Europa. Wie groß schätzen Sie die Gefahr für die Zukunft Europas durch diese Krisen ein?
Haratischwili: Was Georgien betrifft, bin ich sehr bestürzt und schockiert. Es wird auch in Deutschland viel demonstriert und protestiert. Ich bin da auch sehr beteiligt, sehr bestürzt und sehr besorgt, weil es eine ungemein gefährliche Entwicklung ist. Die Regierung macht gerade einen fatalen Schritt nach dem anderen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist zum Glück ganz anderer Meinung. Der Wille der Gesellschaft wird komplett ignoriert. Es ist eine ganz klare pro-russische Entwicklung, und für uns ist das wie so eine Art "zurück in die Vergangenheit", die einem aber als Zukunft verkauft wird. Das will keiner, wir waren da 70 Jahre. Wir wissen ganz genau, was das bedeutet. Ich darf mir jetzt keinen Nihilismus leisten, weil man diesen Kampf nicht verlieren darf. Wir müssen da einfach weiter. Im Oktober sind Wahlen. Dieses Gesetz wurde schon letztes Jahr versucht zu verabschieden. Nach massiven Protesten wurde es ad acta gelegt und jetzt, ein Jahr später, wieder rausgeholt, unter noch massiverem Protest und großer Bestürzung. Es sind eigentlich alle fassungslos. Gleichzeitig stimmen mich diese jungen Menschen hoffnungsvoll, die ganz klar ihre Zukunft nach Europa gerichtet sehen und die dafür auch kämpfen, die das aber sehr friedlich und auch voller Humor und in Würde machen. Natürlich will keiner eine Eskalation, natürlich will niemand Gewalt. Es ist aber ganz klar: Man darf diesen Kampf nicht verlieren - das wäre desaströs.
Krieg oder Frieden - in welche Richtung steuert Europa?
Haratischwili: Ich hoffe in Richtung Frieden. Ich hoffe, dass der Mehrheit der Menschen bewusst ist, was sie haben, was für ein Luxus das ist, in Frieden zu leben. Ich glaube, es ist allen bewusst, dass man keinen Krieg will. Aber es gibt leider Gottes genügend alarmierende Entwicklungen, auch hier in Europa: der Rechtsruck vielerorts et cetera. Ich hoffe, plädiere und setze auf Vernunft und gehe davon aus, dass die meisten von uns all diese Werte, über die wir vorher gesprochen haben, auch wahren möchten. Aber es ist sehr gefährlich. Ich weiß nicht, warum jetzt alles wieder in Richtung Riss geht, warum sich vielerorts wieder dieser Abgrund auftut, warum es so schwer ist, diese Balance zu halten. Ich habe manchmal das Gefühl, dass man wie in Parallelgesellschaften lebt - ob es in Deutschland ist oder auch in Georgien. Ich habe neulich immer wieder entsetzt feststellen müssen, dass es in Georgien Menschen gibt, mit denen ich das Land, die Sprache, die Kultur, den Background und vielleicht auch das Alter teile, und trotzdem sind wir uns so fremd. Das verstehe ich nicht. Das ist ein Thema, über das ich ganz viel nachdenke, wie das entsteht, wie diese Risse innerhalb einer Gesellschaft, sogar innerhalb einer Stadt zustande kommen, und wie man so einen Dialog hinkriegt und ob es überhaupt möglich ist. Ich bin sehr am Grübeln über viele Themen.
Das Interview führte Juliane Bergmann.