"Versöhnungstheater": Wie ehrlich ist die deutsche Erinnerungskultur?
Der jüdische deutsche Autor Max Czollek bestreitet in seinem unbequemen, teils polemischen Essay "Versöhnungstheater", dass das Gedenken und Aufarbeiten deutscher Erinnerungskultur aufrichtig und ehrlich ist.
In Deutschland prägt der Begriff der "Zeitenwende" die politische Landschaft, seit Bundeskanzler Scholz diese Diagnose aufstellte, angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine. "Zeitenwende": Das bedeutet auch im Bewusstsein vieler, dass Deutschland international - politisch und auch militärisch - wieder eine führende Rolle spielen soll.
Eine wichtige Vorbedingung dafür ist die jahrzehntelange Tradition der Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, ihre international von vielen als vorbildlich gelobte Erinnerungskultur. Genau an dieser Stelle setzt das am Montag erschienene neue Buch von Max Czollek an: Der jüdische deutsche Autor, Essayist und Lyriker bestreitet nämlich, dass all das Gedenken und Aufarbeiten aufrichtig und ehrlich ist.
Max Czollek: Deutsche Erinnerungskultur ist "Versöhnungstheater"
Max Czollek nennt die deutsche Erinnerungskultur an den Massenmord an sechs Millionen Juden ein "Versöhnungstheater": Aus seiner Sicht verfolgen die Deutschen mit dem Gedenken den Hauptzweck, sich selbst zu beweisen, wie weit man sich von den Verbrechen des Nationalsozialismus entfernt habe, wie sehr man "wieder gut" geworden sei:
Beim Versöhnungstheater leisten die hier lebenden Juden und Jüdinnen eine Art ideologische Arbeit, um die sich erinnernde deutsche Seite ihrer guten Absichten zu versichern. Es handelt sich hierbei um Theater, weil diese Versöhnung auf der Bühne der Öffentlichkeit stattfindet, bei der nicht das Verhältnis von Inszenierung zur Realität, sondern von Inszenierung zum Publikum bestimmt ist. Zitat aus "Versöhnungstheater"
Weizsäcker-Rede: Abwehrzauber gegen die Gespenster der Vergangenheit
Czollek liefert viele Beispiele für seine These; unter anderem die berühmte Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 50. Jahrestag der Kapitulation am 8. Mai 1985. Von Weizsäcker hatte damals vom Tag der Befreiung gesprochen. Czollek findet hier vor allem eine religiös verbrämte Passage in Weizsäckers Rede irritierend: "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."
Mit dieser religiösen Formel, so schreibt Max Czollek, schuf von Weizsäcker den Deutschen quasi ein spirituelles Instrument, um sich selbst von ihrer Schuld zu erlösen: durch Erinnerung. Und so wird diese Rede Richard von Weizsäckers, die damals wie heute als ein Wendepunkt und Meilenstein der Erinnerungskultur gilt, für die Deutschen in Wirklichkeit zu einer Art Abwehrzauber gegen die Gespenster der Vergangenheit, argumentiert Max Czollek.
Erinnerungskultur für viele Schuldige ohne Konsequenzen
Die auch schon von anderen Kritikern geäußerten Vorwürfe an diese Erinnerungskultur lauten, dass sie die deutsche Schuld stets eher abstrakt behandelte, ohne konkrete Taten zu benennen. Und dass sie juristisch für die überwältigende Anzahl der Schuldigen ohne Konsequenzen blieb, und materielle Entschädigungen für Opfer und Hinterbliebene teilweise ausblieben oder lächerlich gering ausfielen.
Statt ernsthafter Ausdruck der eigenen Absichten dienten die großen Gesten der Erinnerungskultur als eine Reihe von Ersatzhandlungen, die es erlaubten, eine deutsche Identität nach 1945 von der Vergangenheit zu entlasten, ohne zugleich den Preis zu zahlen, den man für die Herstellung von Gerechtigkeit hätte zahlen müssen.
Das Kernstück einer Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung.
Zitat aus "Versöhnungstheater"
Max Czollek zweifelt nicht am guten Willen der zentralen Akteure
Czollek räumt an einer Stelle ein, es gehe ihm nicht darum, bei den zentralen Akteuren der deutschen Erinnerungskultur an ihrem guten Willen zu zweifeln. Entscheidend sei allerdings das Resultat - und das wertet er als deutsche Selbstentlastung.
Heute sieht Max Czollek die Erinnerungskultur am Ziel: der Rückkehr zu einem ganz normalen nationalen Selbstbewusstsein. Dies sei auch vor dem Hintergrund der ausgerufenen Zeitenwende angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine zu beobachten:
Das zeigte sich bei der Fußballweltmeisterschaft 2006, als die Deutschlandfahnen in den öffentlichen Raum zurückkehrten, oder bei der Erweiterung des Innenministeriums zum Heimatministerium 2017. Und auch politische Schlagworte wie das von der 'Zeitenwende', oder des postulierten Endes von knapp 80 Jahren außenpolitischer Zurückhaltung sind Teil dieses neuen Kapitels. (Zitat aus "Versöhnungstheater"
Unbequemes Essay mit manch polemischer Passage
Max Czolleks Essay ist unbequem, provozierend und in manchen Passagen polemisch, brillant in der Analyse, und überzeugend in der Argumentation. Vermutlich werden viele diese Einschätzung nicht teilen. Aber sie könnten Max Czolleks Gedanken zumindest als irritierende, störende Stimme zur Kenntnis nehmen. Die einige eingefahrene Gedenk-Rituale und deutsche Selbstgewissheiten hinterfragen könnte.
Selten gehörter, unüberhörbarer und verstörender Sound im Diskurs
Czolleks Beobachtungen teilen auch andere. Kritik daran, dass Deutschland zwar eine üppige Symbolpolitik der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit betreibt, sich aber kontinuierlich weigert, viele Opfergruppen zu entschädigen, wird immer wieder auch international laut. Zuletzt beispielsweise durch die Artikulation der immer noch offenen Reparationsansprüche Polens und Griechenlands.
Was Czollek in seinem "Versöhnungstheater" beschreibt, ist mehr, als eine Einzelmeinung. Es ist ein, im deutschen Mainstream zwar bisher fast ungehörter, aber dafür in jüngeren, internationaler orientierten Diskursen unüberhörbarer, störender und auch verstörender Sound. Und: Er ist jüdisch und deutsch! Es wäre an der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft, ihm zuzuhören.
Versöhnungstheater
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- ISBN 978-3-446-27609-3
- Veröffentlichungsdatum:
- 23. Januar 2023
- Preis:
- 22 €