Herta Müller - Schriftstellerin der existenziellen Heimatlosigkeit
Als Spätaussiedlerin kam Herta Müller Ende der 1980er-Jahre aus Rumänien nach Deutschland. Ihre Werke behandeln häufig das Gefühl existenzieller Heimatlosigkeit. 2023 wurde die Literatur-Nobelpreisträgerin 70 Jahre alt.
Die Überraschung war groß, als die Akademie in Stockholm im Oktober 2009 bekannt gab, dass Herta Müller mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet würde. Denn immerhin war sie damit innerhalb von zehn Jahren die dritte deutschsprachige Literatur-Nobelpreisträgerin, nach Günter Grass 1999 und Elfriede Jelinek 2004. Inzwischen ist mit Peter Handke 2019 noch ein weiterer dazugekommen. Nach der Verwunderung damals folgte die Anerkennung. Ihr gelinge, "mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit zu zeichnen." So die Jury-Begründung für den Nobelpreis.
14 Jahre ist das schon wieder her. Damals war Herta Müller 56. Am Donnerstag wurde sie 70, und erst vor wenigen Tagen ist ein neues Buch von ihr erschienen. Es heißt: "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald".
Lesung mit 35 Jahren auf Einladung des NDR in Hannover
Es war im Jahr 1988. Herta Müller war erst kürzlich mit ihrem damaligen Ehemann Richard Wagner von Rumänien nach Deutschland übergesiedelt. Als Schriftstellerin war sie noch gänzlich unbekannt. Da war sie auf Einladung des Norddeutschen Rundfunks zu Gast im Kleinen Sendesaal in Hannover, um aus ihrem bis dahin unveröffentlichten Prosatext "Reisende auf einem Bein" zu lesen. Sie war 35 Jahre alt, hatte unter der Ceaușescu-Diktatur zu leiden gehabt und war noch sehr hilflos und unsicher in ihrer neuen Wahlheimat: "Guten Abend. Ich lese Ihnen heute Abend Texte, die ich hier in Berlin geschrieben habe. Es sind Texte, die locker zusammengefügt sind. Es sind Texte, die das nächste Buch werden sollen."
2009 erhält sie den Literaturnobelpreis
Mit ihren Büchern "Reisende auf einem Bein" und "Der Mensch ist ein Fasan auf der Welt", "Herztier" und später "Atemschaukel" eroberte sie sich einen sehr eigenen Stellenwert in der deutschen Literaturlandschaft. Immer war ihre Sprache neu, anders und geistreich-poetisch, erschütternd in der Darstellung von existenzieller Heimatlosigkeit in der Welt. Dann kam 2009 die Nachricht, dass sie den Literaturnobelpreis erhält. Sie selbst war damals telefonisch nicht erreichbar. Oder wollte es nicht sein. Aber ihr damaliger Verleger Michael Krüger reagierte auf Anfrage von NDR Kultur: "Es geht ihr sehr gut. Sie hat nur zeitweilig die Sprache verloren. Vor Überraschung. Da sie aber eine sehr eloquente Person ist, kommt sie sicher wieder zum Vorschein." Sie kam wieder zum Vorschein.
"Schriftsteller ist man nur, wenn man mit sich am Schreibtisch sitzt."
Drei Wochen später war sie zu Gast im Rolf-Liebermann-Studio in Hamburg. Noch ganz benommen von der großen Anerkennung, die ihr widerfuhr. Und zugleich voller Klarheit und Bescheidenheit. Der ganze Rummel, die neuen Anforderungen an sie als öffentliche Person konnte ihre Grundansicht nicht erschüttern. "Ich glaube, Schriftsteller ist man nur, wenn man mit sich am Schreibtisch sitzt."
Nobelpreisrede: Geschichte aus ihrer Kindheit
In ihrer Nobelpreisrede erzählte Herta Müller eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Damals habe ihre Mutter sie beim Verlassen des Hauses immer gefragt, ob sie ein Taschentuch dabei habe. Dieses Taschentuch wurde für sie zum Sinnbild, zum einen für die mütterliche Liebe und Fürsorge der Mutter, zum anderen für Mitmenschlichkeit in unerwarteten Situationen, etwa in stalinistischen Arbeitslagern. Ihre Mutter war als Rumänien-Deutsche nach dem zweiten Weltkrieg in ein ukrainisches Lager deportiert worden. Und auch ihr Schriftstellerkollege und Freund Oskar Pastior, der 2006 gestorben war. Ihre Rede gab Herta Müller den Titel "Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis". "Ich wünschte mir, ich könnte einen Satz für alle sagen, denen man in Diktaturen alle Tage bis heute die Würde nimmt. Kann es sein, dass die Frage nach dem Taschentuch seit jeher gar nicht das Taschentuch meint, sondern die akute Einsamkeit des Menschen?"
"Atemschaukel": Besonderer Gipfel im Werk von Herta Müller
In "Atemschaukel" schilderte Herta Müller, basierend auf zahlreichen Gesprächen mit Oskar Pastior, das Schicksal eines Mannes, der in jungen Jahren in ein sowjet-ukrainisches Arbeitslager deportiert worden war. Bis heute ragt "Atemschaukel" als besonderer Gipfel im Werk Herta Müllers weit heraus, als ein mächtiges Antidot gegen den "Teufelskreis der Diktatur".
Wer aber glaubt, es ginge im Werk Herta Müllers darum, "gegen das Vergessen" anzuschreiben, täuscht sich. "Wenn ich schreibe, schreibe ich auch nicht gegen das Vergessen. Das sieht vielleicht außerhalb davon, oder von der Rezeption so aus. Aber wenn ich schreibe, habe ich Dinge mit mir selbst zu klären. Ich arbeite an Dingen, die ich mit mir herumschleppe und an Beschädigungen, die im Laufe dieser Zeit entstanden sind."