Widerstand durch Sprache: Neuer Band mit Reden von Herta Müller
In den neun Reden und dem titelgegebenden Monolog "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald" transportiert Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ihr inneres Sprechen aus dem Kopf heraus.
Das Überleben in der Diktatur und der Widerstand durch Sprache sind die Lebensthemen der im rumänischen Banat geborenen Schriftstellerin Herta Müller. In Romanen wie "Atemschaukel", Essays wie "Hunger und Seide" und Collagen wie "Der Wächter nimmt seinen Kamm" hat sie die Folgen von Unfreiheit, Hunger und Angst mit den Mitteln der Poesie immer wieder aufs Neue untersucht. Dafür wurde sie 2009 mit dem Nobelpreis für Literatur auszeichnet. Zu ihrem 70. Geburtstag sind im Hanser Verlag unter dem Titel "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald" ihre Reden aus den letzten 20 Jahren erschienen.
Widerstand machte Herta Müller zur Staatsfeindin
Bevor Herta Müller 1987 nach Deutschland kam, arbeitete sie in Rumänien, damals unter der Herrschaft Ceaușescus, als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Dort weigerte sie sich, Kollegen für die Securitate, den Geheimdienst, zu bespitzeln und machte sich damit zur Staatsfeindin. Niemand sprach mehr mit ihr, der Geheimdienst ging in ihrer Wohnung ein und aus, hinterließ Spuren: Ein Stuhl stand in einem anderen Zimmer, wenn sie nach Hause kam oder dem Fuchspelz fehlten die Füße. Zum Verhör ging sie stets mit einer Zahnbürste in der Handtasche. Ihre Verhaftung schien jederzeit möglich. Der Widerstand zwang sie in eine Einsamkeit, in der ihr nur das "Sprechen in den eigenen Kopf" blieb.
Und ich glaubte sogar, dass, was man sich selber in den Kopf sagt, am stärksten Sprache ist. Es sieht wie Schweigen aus, aber es ist die Substanz der eigenen Sprache. Leseprobe
Herta Müllers Gedanken über die Folgen der Diktatur
In den neun Reden und dem titelgegebenden Monolog "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald" transportiert Herta Müller, genau wie in all ihren Texten, ihr inneres Sprechen aus dem Kopf heraus. Sie denkt nach über Begriffe, die unmittelbar mit dem Erleben einer Diktatur verbunden sind: Würde, Flucht, Exil, Humor und Heimweh. Mit besonderem Nachdruck spricht sie sich aus für eine Würdigung des Leids im Exil. Viel zu wenig Aufmerksamkeit sei den Biografien derer zugekommen, die den Holocaust zwar überlebten, jedoch im Exil die Gewalt auf andere Art und Weise erfuhren.
"Das Medium Sprache wurde für Herta Müller in einer schweren Zeit eine Heimat - und ist es bis heute geblieben." Claudia Roth, Kulturstaatsministerin
In der Rede "Von ihm selbst war nur irgendjemand dabei oder die Umgebung als Heimwehschutz" untersucht Herta Müller die Erzählungen des Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmidt. Als Kind allein vor den Nazis nach Frankreich geflohen, erlebte er im Internat Prügel und Demütigung. Die Erfahrung des Verlassenseins in der Fremde ließ ihn als Erwachsenen nicht mehr los. Der erzwungene Verlust von Eltern, Heimat und Muttersprache ist in Herta Müllers Augen eine wirksame Vernichtungstechnik.
Den Begrifflichkeiten wie Heimat oder Exil stehen in Herta Müllers Reden konkrete Dinge gegenüber. Im Text "Das chinesische Glasauge" beginnen drei Gegenstände, die sie, noch in Rumänien, in einem Schaufenster sieht, ein monströses Eigenleben: ein Bonbon, ein Streichholz und eine Rasierklinge. Was lässt sich mit diesen Dingen in welcher Reihenfolge tun? Und natürlich enthält nach allen möglichen Varianten die Rasierklinge die deutlichste Botschaft. Die Diktatur richtet sich gegen das Individuum, sie schreibt sogar den Gegenständen ihre Bestimmungen ein.
"Eine Fliege kommt durch einen halben Wald": Fantastischer Monolog
In der Zeitung stehen kleingedruckt, in epischer Länge die Reden Ceaușescus, kaum lesbar, weil sie immer das gleiche enthalten und nichts als Ermüdung zum Ziel haben. Genau das Gegenteil davon sind Herta Müllers Texte.
Das zeigt sich vor allem an dem fantastischen Monolog "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald". Hier wartet eine Frau auf einen Mann, der verschleppt worden ist. Sie wartet auf einen Brief oder auf eine fremde Frau, die Geschichten aus dem Arbeitslager kennt. Die Wartende ist allein mit den Kissen, Kartoffeln und dem kühlenden Wind in ihrer Wohnung. Sie spricht Sätze in ihren Kopf. Es sind diese Sätze, in denen die alltäglichen Wörter über sich hinauswachsen und die "leere Freiheit", von der im Buch immer wieder die Rede ist, Gestalt annehmen lassen. Es sind diese Sätze, aus denen das ganze Wunder von Herta Müllers Literatur besteht:
Ich ging jeden Morgen aus dem Anfang des Tages hinaus. Die Sonne stand nachtäugig in meinem Hinterkopf und vorne stand mein Gesicht, es hatte nicht geschlafen. Und der Himmel hatte einen Buckel aus Wolken, einen Buckel in die Stadt hinein. Leseprobe
Eine Fliege kommt durch einen halben Wald
- Seitenzahl:
- 128 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27848-6
- Preis:
- 24 €