Graphic Novels: "Der Comic ist eine anerkannte Literaturform geworden"
Volker Hamann, Herausgeber der Zeitschrift "Reddition", spricht über die Etablierung der Graphic Novel und wünscht sich, dass der Comic noch mehr wahrgenommen wird und mehr Verbreitung findet.
Herr Hamann, ich habe das Gefühl, dass das Thema Graphic Novel vor einiger Zeit ganz präsent in den Feuilletons war, aber jetzt ein bisschen zurückgetreten ist. Sind die Graphic Novels weniger populär oder sind sie als Literaturform "normal" geworden?
Volker Hamann: Ich glaube, dass eine Etablierung stattgefunden hat, und das der Comic generell eine - in Teilen zumindest - anerkannte Literaturform geworden ist. "Graphic Novel" sehe ich so ein bisschen als Marketingbegriff, der verwendet wird, um die Leute davon abzulenken, dass es nichts Komisches ist, nichts Witziges, keine Humorgeschichte, sondern dass es auch eine anspruchsvolle, dramatische Geschichte sein kann. Vor zehn, 15 Jahren, als das mit dem Begriff "Graphic Novel" aufkam, war das in den Feuilletons deutlich präsenter. Das hat aber meiner Kenntnis nach nicht unbedingt nachgelassen, sondern es hat sich etabliert, weil immer mehr Redakteure und Kritiker normal darüber berichten. Sie stellen es nicht mehr als etwas Besonderes heraus, sondern es ist mittlerweile ganz normal.
Welche Rolle spielt dieser Bereich auf dem Literaturmarkt? Wie groß ist dieses Genre?
Hamann: Die Literaturverlage sind in den letzten Jahren verstärkt darauf gekommen, auch Comics zu veröffentlichen, Graphic Novels oder auch Mangas, weil sie gemerkt haben, dass da ein ganz großes Interesse bei einer Klientel ist, die sie sonst nicht erreichen. Oder es handelt sich um Literaturadaptionen, wo es sowieso passen würde.
Sie haben gesagt, "Graphic Novel" sei eher ein Marketingbegriff. Früher hat man landläufig Comic gesagt. Sie sagen bei "Reddition": "grafische Literatur" - auch eine schöne Bezeichnung. Wie scharf sind diese Begriffe überhaupt voneinander zu trennen?
Hamann: Ich finde, gar nicht. Das verschwimmt je nach Buch, je nach Inhalt, je nach Zeichner, je nach Autor, je nach Szenarist - da kann man zu allem fast alles sagen. Das Blöde ist, dass wir in Deutschland keinen richtig guten Begriff für das haben, was man in Frankreich "bandes dessinée" oder in Amerika "comic book" oder "graphic novel" nennt. Als ich mein Magazin damals mit dem Untertitel "Zeitschrift für grafische Literatur" ausgestattet habe, kam das von der Arbeitsstelle für grafische Literatur an der Universität in Hamburg, die sich gegründet hatte. Wir fanden diesen Begriff einfach toll, weil der genau das wiedergab, was wir eigentlich unter Comic verstehen: nichts Komisches, nicht Humorvolles - das kann es natürlich auch sein, aber vor allem die gesamte Bandbreite der Literatur abdeckend.
Wenn ich durch die vergangenen Ausgaben der Zeitschrift schaue, dann können da "Die Schlümpfe" vorkommen und "Hägar der Schreckliche", also klassische Comics, oder in einer aktuellen Ausgabe ein Dossier über den Belgier André-Paul Duchâteau, der 2020 95-jährig gestorben ist und sein ganzes Leben lang Detektivgeschichten gezeichnet hat. Das ist eine interessante Figur, eine echte Entdeckung für jemanden, der den nicht kennt, oder?
Hamann: Ich denke schon, weil das ein unglaublich produktiver Mann gewesen ist. Er hat schon mit 16 Jahren seinen ersten Kriminalroman geschrieben und veröffentlicht und hat dann eine unglaubliche Karriere hingelegt, weil er nicht nur im Comic, sondern auch in der Literatur einige Leistungen vollbracht hat und dafür ausgezeichnet worden ist. Aber das Wichtigste für mich, und deswegen habe ich auch eine Sonderausgabe der "Reddition" über ihn herausgebracht, ist, dass er sehr viele Zeichner beeinflusst hat, aber auch angeleitet hat, gute Comics zu machen.
Wenn Sie sich das wünschen können - in welche Richtung könnte sich dieser Bereich noch entwickeln? Welche Themen könnten aktuell werden?
Hamann: An Themen deckt der Comic alles ab, was man sich überhaupt nur vorstellen kann. Was ich mir wünschen würde, ist die größere Wahrnehmung, dass der Comic mehr als Literaturform wahrgenommen wird, die alle Altersschichten, alle Lesergruppen erreichen kann und das auf eine ganz besondere Art und Weise macht. Es ist nicht ein Film, man setzt sich nicht davor und wird berieselt. Es ist auch kein Buch, man geht nicht in eine Welt hinein, sondern diese Welt wird einem in Bildern präsentiert, aber auch mit einer Geschichte, der man auf eine ganz besondere Art und Weise folgen kann, was eben nur der Comic kann. Da sind ganz viele Mechanismen und Erzählkniffe drin, die es in keiner anderen Literaturgattung gibt - und das finde ich das Wichtigste und das Schönste am Comic. Dass das wahrgenommen wird und mehr Verbreitung findet, das würde ich mir wünschen.
Das Interview führte Mischa Kreiskott.