Neue Graphic Novels: Drei Frauen im Mittelpunkt
Eine Ärztin, eine Königin und eine Wissenschaftlerin: die Hauptfiguren der hier vorgestellten Graphic Novels sind alle Frauen - doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein.
"Bloody Mary"
Wir schreiben das Jahr 1527. Mary Tudor ist 11 Jahre. Ihr Vater König Heinrich der VIII. von England will seine Ehe zu Katharina von Aragon beim Papst annullieren lassen, weil sein männlicher Thronfolger ausbleibt. Der Papst weigert sich. König Heinrich führt Krieg, sagt sich von der katholischen Kirche los und gründet die Kirche Englands. Katharina wird verbannt, genauso wie Tochter Mary. 26 Jahre später wird Mary trotzdem Königin.
Was sich in der Geschichtsschreibung schnell erzählen lässt, haucht Kristina Gehrmann mit Stift und Farben Leben ein. Mehr als ein Jahr hat es gebraucht, bis sie ihr Buch über Mary, die als Königin zahlreiche protestantische Widersacher hinrichten ließ und zur "Bloody Mary" wurde, fertig gestellt hat: "In erster Linie möchte ich eine spannende Geschichte erzählen, die uns das Gefühl gibt, in eine längst vergangene Zeit, an einen bestimmten Ort einzutauchen."
Und das tut Kristina Gehrmann. Sie erzählt Marys Leben von Kindesbein an, mit Stupsnase und großen Kulleraugen, beschreibt historische Zusammenhänge. Manchmal wirken die Dialoge etwas trocken, dafür leben die Zeichnungen von einer Detailreiche und Farbenfreude umso mehr. Die Bilder, die sie findet, sind comichaft und klar umgesetzt. Ihre mit Tusche kolorierten Seiten leben durch die aquarelligen Farbverläufe. Mehr als 300 Seiten schwer ist diese gezeichnete Mary-Biografie, und sie macht Lust, sich wieder tief in die Ränkespiele des englischen Königshauses zu lesen.
"Melek + ich"
Der Schweizer Verlag Edition Moderne hat mit "Melek + ich" einen Science-Fiction-Rock-Comic herausgebracht. Die Hauptfigur Nici ist etwa Mitte zwanzig, hängt gern in der Bar ab und experimentiert im großen Stil zu Haus. Sie hat einen künstlichen menschlichen Körper geschaffen, mit dem sie in Parallelwelten wechseln kann. Matrix lässt grüßen. Und in so einer Welt trifft der neue Körper, mit dem Namen Melek, auf den alten, Nici. Beide fangen eine Beziehung an. Leidenschaftlich. Gefühlvoll. Intensiv.
Die in Leipzig lebende Autorin Lina Ehrentraut erzählt diese fantastische wie spannende Geschichte mit kräftigem, schwarzem Strich. Man wähnt sich in einem Skizzenbuch. Die Handlung der vier Kapitel und die Gefühlswelt der Frauen werden mit farbexplodierenden, abstrakten Malereien unterbrochen. Kraftvoll. Verwirrend. Beeindruckend. "Melek + ich" rockt. Ein wildes Buch über queere Identität und die Suche nach der richtigen Beziehung.
"Penelopes zwei Leben"
Das dritte Buch beginnt in Aleppo 2015. Penelope ist eine "Ärztin ohne Grenzen". Während sie vergeblich versucht am OP-Tisch in Syrien Menschen zu retten, hat ihre Tochter daheim in Brüssel ihre erste Blutung. Sie ist nicht da, wenn ihre Tochter sie braucht. Die belgische Autorin Judith Vanistendael beschreibt ihre zwischen zwei Welten lebende Hauptfigur mit viel empathischer Deutlichkeit. Aus Penelopes Augen sehen wir die Zerrissenheit einer Frau, die zwischen Mutter-sein und Berufung steckt.
"Die kleinen Risse in meiner Seele heilen auch nicht mehr wie früher", sagt die Hauptfigur nach nur ein paar Tagen Heimaturlaub. Dort wird sie nicht nur nachts von den Erlebnissen in Aleppo verfolgt. Ein Kind, das sie auf dem OP-Tisch nicht retten konnte, erscheint ihr immer wieder in Flashbacks, gleichzeitig gilt es mit der Teenie-Tochter Spülmaschinen-Debatten zu führen.
"Penelopes zwei Leben", so der Titel, ist ein stilles Buch. Vanistendael verwendet keine Rahmen für ihre Panels. Ihre schnellen Aquarellzeichnungen fließen teilweise ineinander. Mit der wunderbaren Übersetzung von Andrea Kluitmann entsteht ein Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Ein ruhiges Buch, das aber die Wucht der schweren Entscheidungen, die Frauen jeden Tag zu treffen haben, auf eine ganz sensible und liebevolle Art erzählt.