Der Norden liest: Unbekannte Radiowerke von Siegfried Lenz
Mit Romanen und Erzählungen wie "Deutschstunde" oder "Das Feuerschiff" wurde Siegfried Lenz einer der beliebtesten deutschsprachigen Schriftsteller. Was aber viele nicht wissen: In seinen frühen Jahren war er Radio-Autor. Annette Frier und Stefan Gwildis präsentierten sein Werk bei einer Matinee im Rolf Liebermann Studio.
Vor zehn Jahren ist er gestorben, Grund genug, den norddeutschen Autor in allen Facetten zu würdigen. In der Reihe "Der Norden liest" von NDR Kultur im Rolf Liebermann Studio am Hamburger Rothenbaum ging es am Sonntagvormittag um einen "unbekannten" Lenz, den Radio-Autor, der war doch für viele eine Überraschung.
Meine Damen und Herren, ich schreibe nie bei Musik, ich mache nicht den Versuch, im Sinne meiner Lieblingsmusik zu schreiben Zitat von Siegfried Lenz
Keine Frage, Siegfried Lenz konnte Radio - er hatte eine Radiostimme. In einer Aufnahme von 1968 stellt er seine Lieblingsplatten vor - in der NDR Reihe "Der Autor als DJ". Er erzählt: "Ich höre Musik aus verschiedenen Gründen, der erste Grund: Freude, die sich ein Ziel sucht, die ihr Ziel kennt. Und als Beispiel dafür hier gleich meine erste Platte, meine Lieblingsplatte, 'Up, up and away!' von den Ray Conniff Singers."
Überraschungsfunde aus sechsjähriger Archivrecherche im NDR
Es ist einer von vielen Überraschungsfunden einer rund sechsjährigen Recherche, aus der jetzt drei dicke Bände entstanden sind. Dafür wurden die Archive des NDR und anderer Hörfunkanstalten der ARD durchwühlt.
Herausgeber ist Hans-Ulrich Wagner vom Leibniz-Institut für Medienforschung sagt: "Wir wussten natürlich, dass Lenz schon viel fürs Radio geschrieben hat, aber dass er so viel geschrieben hat, das hab ich gelernt durch die Arbeit im Archiv und mit den Redaktionen", so Wagner. "Es ist wirklich ein Glücksfall, dass nahezu alles, was er geschrieben hat für den Rundfunk, erhalten ist."
Essays, Kritiken, Hörspiele für den NDR geschrieben
Siegfried Lenz, der Radio-Profi, das war für viele neu. Wagner nennt ihn einen Medienarbeiter, der immer passgenau für einen bestimmten Sendeplatz und ein bestimmtes Publikum ablieferte. Zwischen den 50er- und 70er-Jahren hat er vor allem für den NDR in Hamburg geschrieben, Essays, Kritiken, auch bissige Hörspiele:
Meine Damen und Herren, kommen Sie hinauf in die norddeutsche Großstadt, in der ich lebe, man sagt, sie sei das Tor zur Welt, und man ist nett zueinander in dieser grauen, trüben, verhangenen Stadt. Der gediegene Anlass, zu dem ich Sie einladen möchte, ist ein gesellschaftliches Fest! Bei uns feiert man die Feste nicht, man 'begeht' sie. Zitat von Siegfried Lenz
Bei der gelungenen Matinee, die von NDR Redakteur Christoph Bungartz moderiert wird, kommt diese Vielfalt von Lenz zur Geltung. Ein erklärter Lenz-Fan ist der Musiker Stefan Gwildis, der erzählt, "dass es ein Schriftseller ist, der beschreibt, er schlägt einem keine Meinung um die Ohren. Das finde ich so toll bei ihm." Zusammen mit der Schauspielerin Annette Frier liest er Texte, die so bisher noch nie zu hören waren.
- Papa müsste schon längst zurück sein, er wollte nur zum Hafen, um die Werft zu fotografieren. Ich kann mir nicht denken, warum das so lange dauert.
- Vielleicht ist ihm was dazwischengekommen.
- Was soll dem den schon dazwischenkommen.
- Sprich nicht so viel, sondern iss. Du wirst jeden Tag dünner.
- Papa auch.
- Das ist was anderes. Trink nicht so hastig.
Zitat Siegfried Lenz
Lenz konnte Themen im Radio ausprobieren
Günter Berg, Vorstand der Siegfried Lenz Stiftung, erklärt, weshalb das Medium Radio für Lenz so wichtig war: "Weil Lenz in der komfortablen Situation war, alles, was ihm durch den Kopf ging, wovon er etwas verstand, was er beobachten konnte, über Texte zu Geld machen konnte." Er habe so viele Themen ausprobieren können.
Themen wie das Fischen, das Reisen, die verlorene Heimat Masuren, der Umgang der Deutschen mit den Gräueln des Zweiten Weltkrieges: Themen, die später seine Romane prägten. Das Radio ernährte ihn und seine Frau - und er fütterte das Radio mit Inhalt: "Was mich antreibt, ist die Neugierde, darum schreibe ich, ich lerne etwas beim Schreiben!", sagte der Schriftsteller damals. Diesen "neuen" Siegfried Lenz kann man jetzt wieder entdecken.
Das Publikum der Matinee hat Spaß dabei, die neuen Texte zu erleben: "Diese Uraufführungen fand ich toll, weil meine eigene Jugend wieder hochkommt", sagt eine Besucherin. Eine andere ist besonders vom Zusammenspiel von Wortbeiträgen, Musik und den präsentierten Videos begeistert, sie sagt, es sei "eine Zeitreise in die 50er-Jahre" gewesen.
Die drei Bände mit den "Rundfunkstücken" von Siegfried Lenz erscheinen am 6. Dezember im Verlag Hoffmann und Campe, mit insgesamt 2.736 Seiten für 180,- Euro (ISBN: 978-3-455-40613-9).