Christina Brüning: "Perspektive der Betroffenen nicht ausblenden"
Die Historikerin Christina Brüning spricht sich deutlich gegen die Aufnahme des Romans "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen als Abi-Lektüre aus. Im Gespräch mit NDR Kultur erklärt sie, warum.
Die Debatte um die Aufnahme von Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras" aus den 1950ern hat eine hitzige Debatte entfacht. Knapp 7.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner wenden sich dagegen, den Roman als Abi-Lektüre an berufsbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg zum fixen Schulstoff zu machen. Mitunterzeichnerin der Petition gegen das Buch als Abi-Stoff ist die Geschichtsprofessorin Christina Brüning. NDR Kultur hat mit ihr gesprochen.
Frau Brüning, Sie unterrichten Didaktik der Geschichte an der Universität Marburg, sind eine der ersten Unterzeichnerinnen der Petition gegen den Stoff. Was hat Sie dazu bewogen, zu unterzeichnen?
Christina Brüning: Mir ist es wichtig zu betonen, dass ich glaube, dass dieses Buch nicht nur aufgrund der rassistischen Sprache nicht geeignet ist, sondern aufgrund des komplett rassistischen Weltbildes, was darin transportiert wird. Es handelt sich hier nicht um einzelne Begrifflichkeiten, über die wir diskutieren, sondern um ein grundsätzlich von extremen Anti-Schwarzen-Rassismus, Antisemitismus und Sexismus gekennzeichnetes Buch. Es würde selbst in einer editierten Version, wo bestimmte Begrifflichkeiten geändert würden, immer noch traumatisierend für Betroffene sein, die Rassismuserfahrungen haben.
Wir haben auch mit dem Literaturkritiker Ijoma Mangold über das Thema gesprochen, der das Buch als eine fantastische Parabel auf Rassismus in der Nachkriegszeit darstellt. Er sagte gegenüber NDR Kultur: "Ich kann Ihnen versichern, schon in zehn Jahren, wenn die Leute zurückschauen auf diese Diskussion von heute und sich wiederum die Haare raufen und sagen: 'Wie konntet ihr nur?' Die Moral ist ungefähr so flüchtig wie der Geist der Moden und die Literatur eigentlich deswegen so groß, weil sie unabhängig ist davon, ob sie exakt unsere Moralvorstellungen reproduziert oder nicht." Was würden Sie ihm entgegnen?
Brüning: Als Historikerin beschäftige ich mich sehr viel mit Wandel. Ich würde dieser literaturwissenschaftlichen Perspektive entgegensetzen, dass wir durchaus immer aufgrund von heutigen Wertvorstellungen Dinge beurteilen. Wenn ich Quellen aus dem Nationalsozialismus lese, dann beschäftige ich mich damit, warum wir dieses Menschenbild im besten Fall heute ablehnen sollten und warum ich meinen Schülerinnen und Schülern beibringen sollte, dass Menschenwürde nicht zu diskutieren ist. Und dass wir hier nicht mehr über "Herrenmenschen" oder "Untermenschen" verhandeln wollen. Ich finde diese Idee, dass man sagt, das sei Cancel Culture und dann könnte man nicht mehr Shakespeares lesen, nicht für richtig. Ich halte das für eine Vorstellung, die einfach nur gegen Menschen, die sich gegen Rassismus einsetzen, verwendet werden soll.
Man könnte doch anhand des Buchs "Tauben im Gras" im Unterricht thematisieren, was der Rassismus in der Nachkriegsgesellschaft Deutschlands bedeutet hat.
Brüning: Wenn man wirklich Rassismus in der Schule thematisieren wollen würde - warum sprechen wir dann über eine vergangene Zeit, die mehrere Jahrzehnte zurückliegt, und sonnen uns dann in dem Gefühl, dass heute ja alles viel besser ist? Gucken Sie sich mal heutige Diskussionen an, ob das der Berlin-Marathon ist, wo über Schwarze Läufer*innen gesprochen wird oder andere Gelegenheiten. Sie haben die gleichen Deutungsmuster, die sich aus dem Kolonialismus über den Nationalsozialismus bis heute gehalten haben.
Wenn wir über Rassismus sprechen wollen in der Schule, dann lassen Sie uns "Werden Sie uns mit dem FlixBus deportieren?" von Mely Kiyak oder "Identitti" von Mithu Sanyal lesen. Oder lassen Sie uns die Kurzgeschichten von Sharon Dodua Otoo lesen. Wir haben so viel gute Frauen, die jetzt gerade in der Gegenwartsliteratur als selber Rassismus erfahrene Menschen Literatur schreiben, die gut ist, um dieses Thema zu behandeln. Wenn sie aber, was wahrscheinlich wirklich eigentlich das Anliegen war, ein Buch aus den 1950er-Jahren lesen wollen und sie wollen die Gruppe 47 und die Nachkriegsgesellschaft thematisieren, dann müssen sie doch nicht Koeppen lesen. Dann können sie Ingeborg Bachmann lesen. Da müssen wir nicht ein Buch lesen, wo über hundert Mal Schwarze Menschen abgewertet werden, auf jeder einzelnen Seite.
Wie würden Sie mit diskriminierenden Begriffen in der Literatur und im Unterricht umgehen?
Brüning: Ich bin glücklicherweise in dieser Situation keine Deutschlehrerin. Ich gehe damit so um, dass ich meinen Schüler*innen und meinen Studierenden klarmache, dass ich diese Begriffe, wenn sie unreflektiert einfach so übernommen werden, als besonders problematisch empfinde. Und dass ich mir wünsche, dass, wenn es eine Quellenanalyse ist, dass sie eine kommentierende Fußnote daran machen und sagen: "Aufgrund der Situation in der Quelle zitiere ich das hier, ich distanziere mich aber von dieser Sprachverwendung und so weiter." Wie Sie es auch machen würden, wenn sie Himmler-Texte lesen und da von "slawischen Untermenschen" die Rede ist. Ich wünsche mir in den Hausarbeiten, dass die Studierenden sich in ihrer eigenen Sprachverwendung inklusiv und nicht diskriminierend äußern.
Ijoma Mangold spricht hier von einem Orwellschen Neusprech, also einer Verzärtelung von Gefühlen. Wie würden Sie das sehen?
Brüning: Das ist genau das Empathie-Gefälle, das Maisha Auma als Professorin an der HU Berlin immer wieder zitiert. Es geht einfach darum, dass wir die Innenperspektive von Betroffenen nicht ausblenden. Wir können doch nicht sagen, dass ist eine Verzärtelung der Branche. Wenn es Menschen gibt, die sich negativ davon betroffen fühlen, kann man doch nicht als Mehrheitsgesellschaft entscheiden, dass das okay ist, weiterhin diese Begrifflichkeiten zu verwenden. Und ich finde auch, das N-Wort oder auch das Z-Wort oder das I-Wort - das sind Wörter, die durch ihren ganzen kolonialistischen Diskurs, in dem sie entstanden sind, extrem negativ gemeint waren. Das ist auch nicht wegdiskutierbar. Sprache ist etwas, was schon immer im Wandel war. Warum sollte sich Sprache nicht ändern?
Wie sollte man denn überhaupt umgehen mit diesem Buch, das hunderte diskriminierende Begriffe enthält?
Brüning: Ich glaube, dass dieses Buch nicht in einen Pflichtlektürekanon gehört. Unabhängig davon ist übrigens der Pflichtlektürekanon sehr weiß und sehr männerlastig. Auch das möchte ich gern an dieser Stelle noch einmal anmerken. Ich glaube, dass der Lektürekanon an sich, falls man überhaupt einen Kanon haben möchte, sehr viel inklusiver und sehr viel diverser werden muss, was weibliche und BPoC-Stimmen angeht. Ich glaube, dass wir uns darüber unterhalten müssen, ob wir überhaupt einen festen, vorgegebenen Kanon von Pflichtlektüren brauchen. Also müssen wir davon ausgehen, dass Deutschland ein Land ist, in dem die Studienrätinnen, die im Abitur unterrichten, sehr gut ausgebildete, studierte Menschen sind. Ich würde denen zutrauen, dass sie im Zweifelsfall ein deutlich besseres Buch hätten auswählen können als das, was jetzt vom Ministerium vorgegeben wurde.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.