Warum der Frust im Osten der AfD nützt: Gespräch mit Grit Lemke
Die Filmemacherin und Autorin Grit Lemke erklärt, warum sich der Osten vom Westen kolonialisiert fühlt und zunehmend radikalisiert. Sie sorgt sich um das Erstarken der Rechten, kritisiert jedoch gleichzeitig die aktuelle Debatte.
Grit Lemke wurde 1965 in Spremberg (Landkreis Spree-Neiße) geboren und wuchs in Hoyerswerda (Landkreis Bautzen) auf. Ihr Dokumentarfilm "Gundermann Revier" wurde 2020 für den Grimme Preis nominiert. 2023 kam ihr abendfüllender Dokumentarfilm "Bei uns heißt sie Hanka" über die sorbische Minderheit in die Kinos. Der Erfolg der Rechten im Osten hat viele Ursachen, sagt die Filmemacherin, darunter die Erfahrung der mangelnden Anerkennung nach der der Wende, die eine tief verwurzelte Unzufriedenheit und einen Pessimismus hinsichtlich der Zukunft begünstigt habe. Es sei allerdings wenig sinnvoll, sich vor allem auf die etwa 30 Prozent AfD-Wähler im Osten zu konzentrieren, denn dadurch gerieten diejenigen aus dem Blick, die die Partei nicht wählten und sich stattdessen aktiv für eine lebendige Zivilgesellschaft einsetzten. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, das ganze Interview können Sie in der ARD Audiothek hören.
Frau Lemke, wenn man zum Beispiel die Europawahlen und die absoluten Zahlen betrachtet, sieht man, dass zwei Drittel der AfD-Wähler nicht in Ostdeutschland leben, sondern in Westdeutschland. Trotzdem gibt es im Osten schon eine relative Stärke der AfD mit 30 Prozent in verschiedenen Umfragen. Welche Ursachen hat das?
Grit Lemke: Ich bin keine Soziologin und habe das auch nicht untersucht. Ich kann nur sagen, was ich in meinem Umfeld, in Hoyerswerda zum Beispiel, sehe. Es heißt ja immer: "Diese abgehängten Regionen" und dann stellt man sich etwas völlig Verarmtes vor. Das ist es ja nicht, den Leuten geht es tatsächlich relativ gut. Es ist gerade wieder eine Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erschienen, aus der hervorgeht, dass die Zufriedenheit mit den Lebensverhältnissen in Ost und in West angestiegen ist, in allen sozialen Schichten, bei Frauen wie bei Männern, bei Jungen wie bei Alten. Vielleicht muss man es anders bemessen. Das wird übrigens auch bemängelt, dass man Zufriedenheit nicht allein in Wohlstand messen kann. Es gibt auch andere Kriterien. Mir fällt da nur so etwas wie Unglück ein; der Osten ist irgendwie unglücklich.
Die Wahlergebnisse haben für mich demografische Ursachen. Da brauche ich nur durch Hoyerswerda zu gehen: Diese Stadt ist komplett überaltert. Neulich bin ich mal im Stadtbus gefahren, und ich war die einzige, die keinen Rollator hatte. Am Ende musste ich aber noch froh sein, dass ich überhaupt im Stadtbus fahren konnte, weil es nur noch ganz wenige sind - am Sonntag fährt da überhaupt kein Bus mehr. Man kommt mit einem Zug fast nirgendwohin. Insofern ist die Region infrastrukturell durchaus abgehängt. Materiell, würde ich sagen, geht es denen nicht schlecht. Die haben guten Wohnraum. Viele haben auch ein Eigenheim, da steht ein ordentliches Auto vor der Tür.
Zugleich ist diese überalterte Gesellschaft vereinsamt, weil die Kinder und die Enkel im Westen sind. Dieser wahnsinnige Exodus ist etwas, worunter die Menschen zum einen emotional leiden, und zum anderen fehlen die jetzt. Das sind die, die im Westen die Wahlergebnisse hübsch machen. Es sind mindestens zwei ganze Generationen, die weggegangen sind. Das sind die Aktiven, die ihr Leben in die Hand genommen haben. Bei uns gab es in den Jahren nach der Wende überhaupt nicht so etwas wie Zukunft. Und dieses Gefühl, keine Zukunft zu haben, das kommt natürlich auch dazu. Das sitzt sehr tief. Ich erlebe auch in Hoyerswerda, dass die Leute immer sagen: "Wir werden alle arbeitslos", wenn es um den Kohleausstieg geht. Es ist aber erwiesen, dass es keine Massenarbeitslosigkeit geben wird, dass es viel mehr Arbeitsplätze gibt als Arbeitskräfte. Das größte Problem im Osten ist der Arbeitskräftemangel, aber das ist in den Köpfen der Menschen überhaupt nicht angekommen. Ich sehe die Ursachen zu einem sehr großen Teil in den Entwicklungen der letzten 30 Jahre und weniger in den Jahren davor. Es wird ja eher immer andersrum interpretiert: Es wird gesagt, der Osten sei faschistisch, weil er aus der DDR kommt. Das sehe ich nicht so.
Sie würden den Fokus also auf die Nachwendejahre legen?
Lemke: In meiner Wahrnehmung, ja. Sicherlich gibt es so etwas wie Defizite, die aus der DDR-Sozialisierung kommen. Zum Beispiel gab es da latenten Rassismus, es gab kaum Berührungspunkte mit Menschen, die nicht deutscher Herkunft waren. Das alles hat natürlich Folgen. Für mich bestätigt sich nicht die These: Der Osten sei diktaturhörig und sehnt sich deswegen nach einer Diktatur. Das ist eine Schimäre - da gibt es ganz andere Dinge, die den Osten beschäftigen.
Ein dominierendes Thema in diesem Wahlkampf ist der Krieg in der Ukraine. Nicht wenige Beobachter sehen darin einen wichtigen Grund für die Stärke der AfD und für das Bündnis Sahra Wagenknecht, das auch in den drei ostdeutschen Bundesländern relativ stark ist. Welche Rolle spielt dieser spezifische Blick des Ostens auf Russland und auf den Krieg in der Ukraine?
Lemke: Das spielt eine riesige Rolle. Ich hab mir in Bautzen in den letzten Wochen die Montagsdemonstrationen angeguckt, und dort ging es ausschließlich um Krieg und Frieden. Das Wort Migration fiel nicht ein einziges Mal, und dort waren Menschen, die vor ein, zwei Jahren noch bei den Ostermärschen waren - klassisch Friedensbewegte. Da setzt sich jetzt die AfD drauf. Ich würde noch nicht mal sagen, dass der Osten russlandfreundlicher geworden ist - dieses "ihr seid alle Putin-Freunde" ist eine ziemlich krasse Unterstellung. Der Osten kennt aber Russland viel besser, schon durch Sprachkenntnisse und so weiter. Es war aber nicht so, dass Russland im Osten beliebt gewesen wäre - das genaue Gegenteil war der Fall.
Was die Menschen am meisten zermürbt, ist diese unheilvolle Rückkehr, dieses: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." Neulich wurde wieder gesagt: Wer Waffenlieferungen infrage stellt, stellt sich auf Putins Seite. Nein, das tut er nicht. Er stellt Waffenlieferungen infrage. Das ist wieder wie in der DDR, dass Differenzierungen verboten sind, dass mit diesen Freund-Feind-Schemata gearbeitet wird. In der DDR gab es dieses widerliche Lied "Die Partei hat immer recht", und jetzt gibt es wieder eine Seite, die behauptet, immer recht zu haben - ein Seite, die die anderen gar nicht mehr anhört. Die fühlen sich in eine Ecke gestellt, weil sie in eine Ecke gestellt werden. Es ist legitim, Diplomatie zu fordern. Niemand oder nur ganz wenige stellen in Frage, dass Putin der Aggressor ist. Aber es wird nicht mehr hingehört, nicht differenziert, und es ist sofort klar, dass das alles Putin-Freunde sind im Osten. Das treibt die Menschen in die Arme der AfD, und das ist richtig scheiße.
Das Interview führte Sebastian Friedrich. Das komplette Gespräch können Sie in der ARD Audiothek hören.