Jessy Wellmer über ihre Doku: "Stellen uns alle gerne hin und meckern"
"Machen wir unsere Demokratie kaputt?" - das hat Tagesthemen-Moderatorin Jessy Wellmer zur Landtagswahl in Sachsen und Thüringen Menschen in Deutschland gefragt. Ihre Doku lief am Montagabend im Ersten und steht in der ARD Mediathek. Im Interview spricht sie über die Stimmung im Land.
Frau Wellmer, Sie haben mit ganz vielen Menschen gesprochen, mit Politikern, mit dem Kabarettisten Dieter Nuhr, mit Henriette Reker, der Oberbürgermeisterin von Köln, vor allem aber mit vielen Menschen in Ostdeutschland. Was sind Begegnungen, die Sie bei der Recherche besonders beeindruckt haben?
Jessy Wellmer: Ich habe eine Frau in Dresden getroffen, die sagte, wir leben in keiner Demokratie mehr, es gebe keine Meinungsfreiheit. Wenn man etwas gegen Bundeskanzler Olaf Scholz sage, dann werde man von den Staatsmedien klein gehalten und in eine rechte Ecke geschoben. Mit Staatsmedien sind wir gemeint, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der offenbar eine gemeinsame Clique mit der Regierung bildet, also gar nicht unabhängig agiert. Da waren so viele Vorwürfe drin.
Oder der Landrat in Mittelsachsen, Dirk Neubauer, der seinen Rücktritt angekündigt hat, weil er bedroht wird, weil er mit Morddrohungen überschüttet wird, der so viel Hass und Hetze erlebt, dass er sagt: "Ich kann dieses Amt gar nicht mehr ausführen. Ich komme an meine Grenzen. Ich kann der Demokratie gar nicht mehr weiterhelfen, obwohl genau das eigentlich meine ursprüngliche Aufgabe war." Das sind schon intensive Begegnungen, die mich immer wieder zum Nachdenken bringen.
Die Versuchung ist natürlich da, Menschen zu überzeugen oder zu widersprechen. Wie haben Sie dem widerstanden?
Wellmer: Ich bin ein Kind des Ostens, aus Mecklenburg. Ich habe nicht Verständnis für alle Haltungen und schon gar nicht für extremistische, aber ich will verstehen, woher sie kommen. Das verlangt erstmal nicht missionarisch unterwegs zu sein, sondern zu fragen: Woher kommt dein Frust, deine Wut? Dieser Frust und diese Wut - das ist ja kein ostdeutsches Phänomen. Das ist in Ostdeutschland aus verschiedenen Gründen stärker: Die Gesellschaft ist älter, die Skepsis gegenüber demokratischen Institutionen ist größer, die Verunsicherung aus den 90er-Jahren ist bei vielen noch da. Aber das ist ein gesamtdeutsches Phänomen, das mir auch in Köln, Hamburg und sonstwo begegnet: Dass die Skepsis gegenüber der Demokratie, wie wir zu Entscheidungen kommen, mehrheitlich größer wird. Es wird gesagt: 'Die da oben, die für uns entscheiden, das sind einfach Versager. Deswegen mache ich nicht mehr mit'. Viele gelangen an den Punkt, an dem man sagt: "Demokratisch gefundene Entscheidungen respektiere ich nicht mehr und damit auch demokratische Spielregeln."
Muss die Politik die Menschen anders abholen?
Wellmer: Wenn wir uns unsere Bundesregierung anschauen, dann ist sie sich vor allen Dingen in einer Sache einig: darüber, dass sie sich nicht einig ist. Wir beobachten, wie Politik handlungsunfähig wird. Ich glaube, dass da auch die Bundespolitik, die "große Politik", wie es mir auf der Straße immer wieder entgegenklang, eine Verantwortung für demokratische Stabilität trägt. Häufig wird das Argument verwendet: "Wir müssen im Streit zu einem Kompromiss kommen." Das stimmt. Aber die Art und Weise oder das Ausmaß der Streits hat auch seine Grenzen. Ja, möglicherweise muss die Politik die Menschen anders abholen - in Ost wie in West. In Ost kommt dazu, dass Parteien, die alle schon regiert haben - SPD, CDU, FDP und so weiter - nicht so eine große Tradition haben. Das heißt, die Menschen im Osten sind orientierungsloser, was Parteien-Fokussierung angeht, und sind deswegen auch häufiger bereit, andere Parteien, auch Parteien an den politischen Rändern zu wählen und nicht immer nur diese berühmte sogenannte Mitte.
Wir haben gerade einen Wochenende mit dem Messer-Attentat von Solingen hinter uns. Wird das den Wahlkampf und die Wahlen beeinflussen?
Wellmer: Ohnmacht und das Gefühl der Trauer und der Angst spielen immer Extremisten und Populisten in die Hände. Das haben wir so oft in der Geschichte erlebt, und das werden wir jetzt möglicherweise in der politischen und vor allen Dingen auch in der gesellschaftlichen Debatte über gefühlte Angst erleben. Das ist meine Befürchtung, dass es auch sein Einfluss nimmt. Mich hat beeindruckt, was viele Menschen in Solingen gesagt haben, auch bei den Trauergottesdiensten: dass sie große Sorge davor haben, dass diese Trauer und das, was passiert ist, jetzt politisch instrumentalisiert wird, gerade von extremistischen Kräften. Diese Sorge kann ich teilen.
"Machen wir die Demokratie kaputt?" - gibt es eine Antwort, ein Fazit von Ihnen auf diese Frage?
Wellmer: Es sind nicht nur die Extremisten und Populisten, wir alle nagen dran. Wir alle neigen dazu, relativ schnell steil zu gehen und uns zu empören. Dann zu sagen: "Ich mache da nicht mehr mit. Es muss sich jetzt etwas ändern". Dabei vergessen wir, dass wir über politische und demokratische Teilhabe auch ausführen können, indem wir Initiativen gründen. Uns an unsere Abgeordneten, die wir selbst gewählt haben, wenden und sagen, was uns stört. Stattdessen stellen wir uns lieber hin und meckern. Diese ständige Erhitzung, diese Empörung - das kann jeder für sich mal ein bisschen reflektieren, wie schnell er steil geht. Wie selten es geworden ist zu sagen: 'Wir haben etwas gut hinbekommen'. Das höre ich kaum mehr. Es gibt viel, was zu bemeckern ist, viel Frust, den wir aus gutem Grund schieben - aber nicht nur. Wir leben immer noch in einem Land, in dem vieles funktioniert. Nur vieles wollen wir nicht mehr sehen und sehen wir nicht mehr.
Das Interview führte Philipp Schmid.