"Tauben im Gras" als Abi-Lektüre: "Eine gewisse Robustheit gehört dazu"
Ijoma Mangold kann die Kritik an der Einführung des Romans "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen als Abi-Lektüre nicht nachvollziehen: "Ich würde als Deutschlehrer sagen: Was Besseres kann mir nicht passieren."
Eine Petition mit inzwischen knapp 7.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern wendet sich dagegen, den Roman "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen als Abi-Lektüre an berufsbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg zum fixen Schulstoff zu machen. Der Roman erzählt in einem atemlosen Bewusstseinsstrom die Atmosphäre im München der Nachkriegszeit. Er schildert eine schroffe, verstörende, rassistische Realität. Gestartet wurde diese Petition gegen das Buch als Schulstoff von einer Deutschlehrerin aus Baden-Württemberg. Sie sagt, das Buch sei voller Rassismen und diskriminierender Sprache und es sei ihr unmöglich, damit Woche um Woche im Unterricht Zeit zu verbringen. Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Ijoma Mangold.
Herr Mangold, wenn Sie Deutschlehrer geworden wären, würden Sie dieses Buch gern als Schulstoff ins Klassenzimmer holen?
Ijoma Mangold: Oh, eine hypothetische, kontrafaktische Fragestellung - ich als Gymnasiallehrer! Herrlich, wir haben einen tollen Gegenstand, einen großartigen, wichtigen Roman der deutschen Nachkriegsliteratur von Wolfgang Koeppen. Da kann man mit den Schülerinnen und Schülern darüber diskutieren, was es eigentlich heißt, dass wir heute ein anderes Verhältnis zu bestimmten Worten haben. Wie hellsichtig, wie großartig ist es eigentlich, wie es Wolfgang Koeppen da gelingt, zu beschreiben, wie in einer bestimmten, reaktionären Klasse der Rassismus, der vorher Antisemitismus war, sich jetzt eine neue Projektionsfläche sucht und dafür den schwarzen Menschen identifiziert und ihn mit dem Wort "Neger" bezeichnet? Es ist ja erlebte Rede aus der Perspektive dieser Figuren. Das heißt, hier soll - man müsste blind sein, das nicht zu sehen - der Rassismus selber zur Sprache und damit zur Kenntlichkeit entstellt werden. Ich würde als Deutschlehrer sagen: Was Besseres kann mir nicht passieren, um all die Fragen, die sehr viel mit der richtigen Wahl der Worte zu tun haben, die heute die Debatten bestimmen, an diesem Beispiel ausdiskutieren zu können. Vermutlich hätten dann meine Schüler und Schülerinnen eine andere Haltung als ich - aber das ist doch immer sehr gut, wenn das so ist.
Das würden Sie dann mit ihnen wahrscheinlich freudvoll debattieren, oder?
Mangold: Selbstverständlich. Und ich finde es auch völlig absurd zu sagen, dass ein sogenanntes inkriminiertes Wort noch nicht mal mehr im Rahmen einer Diskussion zitiert werden darf.
Ich hab es in meiner Frage auch umschifft, aber Sie haben es freudig zitiert, weil es in dem Roman vorkommt. Dass finden Sie auch richtig. Andererseits müsste ich, wenn ich es im Radio regelmäßig sage, viel Post beantworten.
Mangold: Ja, das ist so, dass man oft viel Post beantworten muss. Aber alles hat seinen Preis. Und manchmal muss man eben auch ein paar Leserbriefe schreiben, wenn man sagen will, was man richtig findet.
Ist Deutschunterricht das richtige Forum, um auf Rassismen in der Gesellschaft hinzuweisen? Man hört Stimmen über diese Debatte in Baden-Württemberg, die sagen: Nein, das gehört nicht in den Deutschunterricht! Vor allem heißt es, Deutschlehrerinnen und -lehrer seien darauf nicht so gut vorbereitet.
Mangold: Das weiß ich nicht. Ich würde denken, der Deutschunterricht, so er sich mit Literatur befasst, hat eine wahnsinnig gute Quelle, um sich mit all dem zu beschäftigen, was fatal, was schrecklich, was herrlich und schön über den Menschen ist. Dazu gehört auch und ganz gewiss diese dunkle Seite des Rassismus'. Insofern ist die Literatur immer ein Weg hin zu vielen gesellschaftspolitische Fragen und oft auch ein sehr eigensinniger, weil die Literatur, so sie gut ist, nicht so glattgeschliffen ist und nicht einfach immer nur die vom Oberschulamt eingeforderte Moral reproduziert. Das ist ja eigentlich das Traurige, das Öde, das Fade unserer Gegenwart, dass wir immer mehr zu so einer konformistischen Moral neigen und die dann auch durch Verwaltungsakte von Universitäten über Theater bis Museen umsetzen. Es wird sehr darauf geachtet, dass man im Orwellschen Sinne immer zu das richtige Neusprech spricht mit der Begründung, dass sonst tausend Gefühle verletzt werden würden. Aber das verunmöglicht dann eine eigentliche Auseinandersetzung in der Sache. Das ist zumindest meine Befürchtung.
Da haben Sie natürlich eine Chance, das zu sagen. Wenn ich der Deutschlehrer wäre und eine Schülerin mir gegenüber äußert, dass sie das rassistisch diskriminiert, dass wir dieses Buch lesen, dann bin ich der Weiße, der dann zu ihr sagt: Wir lesen das jetzt aber trotzdem.
Mangold: Aber jede Literatur behandelt immer irgendetwas, was irgendjemanden als Teil seiner Identität beschreiben kann, wo er sich dann aus diesem Grunde bloßgestellt oder angegriffen fühlt. Es geht natürlich überhaupt nicht darum, vorsätzlich jemanden zu demütigen oder ihm ein traumatisierendes Erlebnis aufzuzwingen. Aber so eine gewisse Robustheit in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gehört doch auch dazu. Wir können doch Dinge, die die Wirklichkeit ausmachen, nicht ausklammern, weil Leute sagen, sie sind von ihr psychisch überfordert.
Viele Menschen regen sich darüber auf, dass bestimmte Begriffe aus Kinderbüchern getilgt werden. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie hat mal gesagt: "Kinder lesen keine Fußnoten." Das fand ich zumindest ein gutes Argument, dass man zum Beispiel das N-Wort nicht erklären kann und deswegen besser tilgt.
Mangold: Ich will da auch keine dogmatische Position haben. Hätte ich eigene Kinder, wüsste ich nicht, für welche Version ich mich entscheiden würde. Ich finde Texte in ihrer Ursprünglichkeit immer faszinierender als glattgeschliffene Texte, aber ich habe auch nichts dagegen, wenn mehrere Versionen im Umlauf sind. Eltern können dann entscheiden, in welche Welt sie ihre Kinder entlassen wollen. Am Ende finde ich eine Welt wenig erstrebenswert, die versucht, alle kulturellen Hervorbringungen der Vergangenheit über den Scheitel der Moral der Gegenwart zu schlagen. Es ist doch vollkommen klar, dass die Welt früher anders dachte, sprach und andere Werte hatte, als es unsere heutige Gegenwart hat. In einem Shakespeare-Drama stehen bestimmt fruchtbare Sätzen für den Geschmack unserer Zeit, aber das fordert uns auch heraus, denn es ist ja nicht so, dass die Moral unserer Gegenwart die letzte wäre. Ich kann Ihnen versichern: Schon in zehn Jahren werden die Leute zurückschauen ob dieser Diskussion von heute und sich wiederum die Haare raufen und sagen: Wie konntet ihr nur? Die Moral ist ungefähr so flüchtig wie der Geist der Moden. Und die Literatur ist eigentlich deswegen so groß, weil sie die Zeit überdauert, weil sie eine Kraft der Fantasie und der sprachlichen Kraft vermittelt, die unabhängig davon ist, ob sie exakt unsere Moralvorstellungen reproduziert oder nicht.
Das Interview führte Mischa Kreiskott.