Wolfgang Koeppen: Der ewig Missverstandene
Wenn Deutschlands bedeutendster Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einen Schriftsteller lobte, war das meist gleichbedeutend mit Erfolg. Nicht so bei Wolfgang Koeppen: Der Nachkriegsautor und Greifswalder Ehrenbürger blieb unverstanden und wenig gelesen.
"Koeppen erschien mir damals der modernste unter den neueren deutschen Schriftstellern zu sein", beschrieb Reich-Ranicki 2006 in einem Interview mit "Die Welt" seine Begeisterung für den 1906 in Greifswald geborenen und 1996 in München gestorbenen Autoren.
Mitte der 1950er-Jahre hätten die meisten Autoren eher "konventionelle Literatur, die an den Expressionismus anknüpfte" geschrieben, so Reich-Ranicki - Koeppen hingegen habe modernere Vorbilder wie James Joyce, John Dos Passos, William Faulkner, Marcel Proust oder Alfred Döblin gehabt.
Zu avangardistisch, …
Koeppens sogenannte "Trilogie des Scheiterns", die aus seinen drei Hauptwerken "Tauben im Gras" (1951), "Das Treibhaus" (1953) und "Der Tod in Rom" (1954) besteht, hatte keinen Einfluss auf die deutsche Literatur der 1950er- und 1960er-Jahre - möglicherweise, weil sie zum falschen Zeitpunkt erschien: Die Deutschen, die während der Nazizeit von der modernen Literatur abgeschnitten gewesen waren, hatten kein Verständnis für einen avantgardistischen Autor wie Koeppen.
"Künstlerisch der beste deutsche Roman der deutschen Nachkriegsliteratur" Marcel Reich-Ranicki über "Tauben im Gras"
In "Tauben im Gras" geht es in 105 episodenhaften Sequenzen um das Leben von mehr als 30 Protagonisten in einer bayerischen Großstadt unter amerikanischer Besatzung während der Nachkriegszeit - geprägt von ihren gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Bezüglich der Figurenkonstellation ist weder eine Hauptfigur noch ein einzelner Held auszumachen. Wie bei Joyces' "Ulysses" spielt sich alles an einem Tag ab.
… und anstößige Wahrheiten
Offenbar konnte die junge bundesrepublikanische Leserschaft wenig mit der politik-, ideologie- und gesellschaftskritischen Perspektive von Koeppens Romanen anfangen. Weder huldigte der Autor einem "Wir sind wieder wer"-Gedanken, noch verfiel er in die Weinerlichkeit der Trümmerliteratur. Im Gegenteil: Er positionierte sich als exponierter Kritiker der Aufarbeitungsversäumnisse in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.
So stellte er in "Das Treibhaus" und "Der Tod in Rom" die Cliquenwirtschaft, Intrigen und politischen Manipulationen der Bundesrepublik dar, prangerte an, wie die alten Nazi-Kader mit den "neuen" Entscheidungsträgern in Westdeutschland kooperierten - das bedeutete einen Skandal. "Der Tod in Rom" wurde sogar als Pornographie verteufelt.
Koeppens epische Formulierungen anstößiger Wahrheiten kamen nicht gut an. Und tun es auch heutzutage bisweilen nicht, wie im April 2023 der Wirbel um mutmaßlichen Rassismus in "Tauben im Gras" wegen der Häufigkeit des "N-Wortes" zeigte. Dabei ließ Koeppen seine Protagonisten genauso sprechen, wie es die Leute damals eben taten.
Irrungen und Wirrungen bis zum ersten Roman
Koeppens Weg zur Schriftstellerei war kein einfacher: Ohne Mittelschul-Abschluss arbeitete er in den 1920er-Jahren als Hilfskoch, Fabrikarbeiter, Platzanweiser oder auch als Prüfer von "Osram"-Glühlampen. Später versuchte er sich als Schauspieler, Dramaturg und Regieassistent am Theater. Ab 1931 war er freier Mitarbeiter, später Feuilletonredakteur und Ressortleiter beim linksliberalen "Berliner Börsen-Courier". Dort veröffentlichte er erste literarische Arbeiten, 1934 und 1935 erschienen seine ersten beiden Romane.
Erfolg hatte er damit nicht: Einerseits entsprach seine Literatur nicht den "Kultur"-Tendenzen der Nazis, andererseits war es hinderlich, dass beide Romane im jüdischen Verlag Bruno Cassirer erschienen. Cassirer-Bücher durften nicht in Schaufenstern ausgestellt werden.
Den Zweiten Weltkrieg überlebte Koeppen, weil er nach einem Bombenangriff in Berlin untertauchen konnte. 1948 heiratete er Marion Ulrich, ein Jahr später erschien "Aufzeichnungen aus einem Erdloch". Erst nach Koeppens Tod stellte sich heraus, dass er weite Teile des Originalberichts des jüdischen Zeitzeugen Jakob Littner lediglich übernommen hatte. 1949 lernte Koeppen den Verleger Henry Goverts kennen, in dessen Verlag seine drei Hauptwerke erschienen.
Reiseberichte statt Romane
Es folgten zwar einige Auszeichnungen wie der "Georg-Büchner-Preis" (1962), der "Große Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste" (1965) oder das Bundesverdienstkreuz am Bande (1979), aber der kommerzielle Erfolg blieb aus. Vor allem enttäuschte Koeppen die hohen Erwartungen, wie zum Beispiel die von Verleger Siegfried Unseld, der sich von ihm den deutschen "Ulysses" erhoffte.
Koeppen fühlte sich dem Druck nicht gewachsen und schrieb keine weiteren Romane mehr, sondern befasste sich mit Reisereportagen für den Süddeutschen Rundfunk, die auch gedruckt erschienen. Lediglich das Prosastück "Jugend" fand 1976 als Spätwerk des Autors noch einmal großes Lob in der Literaturkritik. 1996 starb Koeppen in einem Münchner Pflegeheim. Seine Ehefrau Marion war bereits 1984 verstorben.
Greifswald vergibt "Wolfgang-Koeppen-Preis"
Zur Erinnerung an den Schriftsteller und zur Betreuung seines Nachlasses wurde am 10. Juli 2000 von Günter Grass und Peter Rühmkorf die Wolfgang-Koeppen-Stiftung mit Sitz in Greifswald gegründet. Seit 2003 befindet sich hier das Koeppenhaus mit dem Literaturzentrum Vorpommern und dem Wolfgang-Koeppen-Archiv, das von der Universität der Hansestadt betreut wird.
Alle zwei Jahre wird in Greifswald der "Wolfgang-Koeppen-Preis" vergeben. Die mit 5.000 Euro dotierte Auszeichnung würdigt ein literarisches Wirken, "das in ähnlicher Weise wie das Werk Wolfgang Koeppens dem unvollendeten Projekt der literarischen Moderne verbunden, seiner Zeitgenossenschaft eingedenk bleibt und nicht zuletzt in seiner sozialen Sensibilität dem Werk Koeppens vergleichbar ist", heißt es auf der entsprechenden Website der Stadt. So wirkt der zu Lebzeiten verkannte und missverstandene Autor postum doch noch etwas nach.