Neue App zu Hamburgs Kolonialgeschichte im Praxis-Test
Hamburg nennt sich selbst stolz das "Tor zur Welt". Es war auch das Tor zur kolonialen Welt. In einem europaweit einzigartigen Forschungsprojekt wird an der Uni Hamburg die koloniale Vergangenheit der Stadt erforscht. Jetzt ist eine App erschienen, die koloniale Orte sichtbar macht. Ein Praxis-Check.
Kim Todzi steht neben dem Hauptgebäude der Universität Hamburg und wischt über sein Smartphone. Dann ploppt die App auf, die er mitentwickelt hat. "Wir bekommen jetzt Informationen zu dem jeweiligen Ort", erklärt er. "In diesem Fall geht es um die Kolonialdenkmäler Wissmann und Dominik." In der App klingt das dann so:
Die Kolonial-Denkmäler für Wissmann und Dominik. Heute wird das alte Hauptgebäude der Universität Hamburg von zwei Neubauten flankiert. Von der Zwischenkriegszeit bis in die 60er-Jahre standen an dem prominenten Platz allerdings zwei Statuen deutscher Kolonialoffiziere. App" Koloniale Orte"
Statuen wurden 1968 vom Sockel gestürzt
Es sind Hermann von Wissmann und Hans Dominik. Ihre Statuen wurden 1968 von Studierenden vom Sockel geholt. Ein bundesweit einmaliger Vorgang, Die App sagt, warum:
Ihre Brutalität gegenüber der jeweiligen Bevölkerung ging so weit, dass selbst zeitgenössisch schon deutliche Kritik aufkam. App" Koloniale Orte"
Eine App gegen das Vergessen
Es ist eine App gegen das Vergessen von Verbrechen in den deutschen Kolonien. Jürgen Zimmerer nennt es koloniale Amnesie. "Wir haben einen Nerv getroffen", sagt er. "Nach Jahrzehnten der kolonialen Amnesie merkt man: Es ist relevant - da bewegt sich was."
An der Uni Hamburg forschen der Professor und sein Team seit zehn Jahren am postkolonialen Erbe der Stadt - es ist europaweit einzigartig, weil es lokal ist und global denkt. "Wir haben im Moment einen gesellschaftlichen Diskurs über das koloniale Erbe, der sehr intensiv geführt wurde. Um diesen zu erreichen, muss man - glaube ich - als Wissenschaft auch die Erkenntnisse leichter zugänglich machen. So kam die Idee: Wir machen eine App", erklärt Zimmerer.
Baakenhafen als Drehscheibe für ersten Völkermord
Der Hamburger Baakenhafen zum Beispiel sei die Drehscheibe für den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts an den Herero und Nama gewesen, sagt Zimmerer.
An den ehemaligen Standort der Statuen der beiden Kolonialoffiziere vor dem Hauptgebäude der Universität Hamburg erinnert heute nichts mehr - außer der App.
App in sechs Tagen rund 5.000 Mal heruntergeladen
Die kostenlose App wurde in nur sechs Tagen etwa 5.000 Mal heruntergeladen - bald gibt es sie auch auf Englisch, und sie wächst immer weiter. Das Interesse sei riesig, sagt Kim Todzi. Er geht vom Hauptgebäude ein paar hundert Meter weiter. Richtung Staatsbibliothek und sagt: "Wenn man sich diesem Ort nähert und etwa 50 Meter von ihm entfernt ist, dann ploppt ein Hinweis auf. Dann kann man sich durchklicken zu dem Ort, sich die Texte anhören, die Bilder anschauen oder durchlesen.
Die Staats- und Universitätsbibliothek ist einer der Orte, dessen vielfältige Verbindungen zum Kolonialismus eher überraschen. App" Koloniale Orte"
Kolonialismus war auch gigantischer Wissensraub
Dort lagern bis heute historische Dokumente, die von Deutschen aus Afrika nach Hamburg verschleppt wurden. Kolonialismus war auch ein gigantischer Wissensraub. Das wäre ungefähr so, als könnten wir die Gutenberg-Bibel heute nur in Afrika bewundern. "Grundsätzlich ist es wichtig für jede Gesellschaft, sich im Klaren darüber zu sein, wo sie herkommt. Um sich zu vergewissern, wohin die Zukunft gehen sollte und welche Fehler aus der Vergangenheit man vermeiden sollte", sagt Todzi.
Finanzierung nur noch eineinhalb Jahre gesichert
30 Orte werden in drei Rundgängen aufgerufen. Die App zeigt Netzwerke, stellt Verbindungen her, vermittelt Wissen: Und das, sagt Jürgen Zimmerer, gefalle nicht jedem. Die Finanzierung der Forschung ist nur noch eineinhalb Jahre gesichert, beklagt er. "Ich glaube, dass viele denken: 'Genug ist genug. Wir müssen jetzt nicht auch noch den Kolonialismus aufarbeiten'". Die App biete eine Chance, genau das zu tun, um auch Themen wie Rassismus in der Gesellschaft zu begegnen, so Zimmerer weiter. "Die Geschichte lehrt: Dunkle Seiten gehen nicht davon weg, dass man die Augen zumacht."