Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann

Nachgedacht: Die Woche nach Sylt - Unser inneres Grölen

Stand: 31.05.2024 07:15 Uhr

Gedanken sind frei. Das ist sehr gut so. Was aber, wenn Gedanken so freidrehen, dass man antisemitische Posts liked oder gegen "Ausländer" grölt? Ulrich Kühn hat sich darüber Gedanken gemacht.

von Ulrich Kühn

Bin ich ein Freund maximaler politischer Korrektheit? Nein. Mir leuchtet bis heute nicht ein, was das sein soll, maximal "politisch korrektes" Denken, Reden, Verhalten. Ich wüsste auch nicht, wer beanspruchen könnte, das für alle zu definieren. Bin ich also ein Freund unbeschränkter Freiheit des Denkens, des Redens, des Verhaltens? Nicht ganz, mit Verlaub, denn das wäre ja dumm. Klar, die Gedanken sind frei, dagegen ist nix zu sagen und manchmal auch nix zu machen: Sie sind oft sogar dermaßen frei, dass Menschen, die etwas zu denken versuchen, keinen Gedanken zu fassen kriegen.

Wenn freie Gedanken Schlitten fahren

Anderen widerfährt es, dass ihre freien Gedanken mit ihnen Schlitten fahren und sie dorthin befördern, wo sie am liebsten nicht gesehen worden wären. Ich stelle mir vor, dass es der Präsidentin der TU Berlin so geht, die auf der Plattform X, hoppla, hast-du-nicht-gesehen, antisemitische Posts mit Likes versehen haben soll. Ich sage "versehen haben soll", weil ihr Account nun gelöscht ist. Sie hat allerdings eingeräumt, sie habe "einige Tweets 'geliked', welche die Situation in Gaza und Rafah aufgreifen, die aber antisemitischen Inhalts oder Ursprungs sind". Vielleicht hatte ja der Denkapparat der Uni-Präsidentin derart rasend rotiert, dass sie ausgerechnet den wichtigen und sehr richtigen Gedanken nicht zu packen kriegte, wonach es nicht nur unklug ist, solche Likes zu setzen, sondern in Wahrheit indiskutabel. Immerhin könnte ihr noch eine Art Nach-Denken gelungen sein. Sie hat um Entschuldigung gebeten.

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Wenn das Denken unbeschränkt freidreht, sagt oder tut man halt Dinge, die nicht mehr auf Denken schließen lassen. Die Entscheidung darüber, ob man sich mit diesem Ansatz als Uni-Präsidentin im exakt richtigen Amt befindet, bleibt dann womöglich nicht mehr nur der eigenen Denkfähigkeit überlassen.

Uneingeschränkte Freiheit würde jedes Verhalten rechtfertigen

Man sieht an diesem Fall: Politische Korrektheit ist eine Chimäre, in jeder Hinsicht unbeschränkte Freiheit des Redens und Handelns ist trotzdem nicht so wünschenswert, wie es scheinen könnte. Ich will nicht als Schlaumeier zum 300. Mal den kategorischen Imperativ strapazieren, es ist ja viel banaler: Eine absolut uneingeschränkte Freiheit würde schlechterdings jedes Verhalten rechtfertigen, selbst das manifeste Verbrechen - und schlechterdings jedes Reden, selbst die Verwendung von Nazi-Parolen oder das Grölen von "Ausländer raus", ohne dass es irgendwen bekümmern müsste.

Um zu checken, dass das nicht richtig sein kann, braucht es keine politische Korrektheit. Es reicht der Blick ins Grundgesetz, das jüngst so heftig gefeiert wurde. Alles steht und fällt mit dem ersten Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Er ist ja keine Faktenbeschreibung, er ist ein Bekenntnis, eine bindende Selbstverpflichtung für dieses Land nach dem Holocaust. Der Satz setzt dem Leben in Freiheit den Grund - im doppelten Sinn des Wortes. 

Grundgesetz schützt Würde aller Menschen

Wen freidrehende Gedanken so im Griff haben, dass er zwanghaft sein hassendes Inneres nach außen kehrt, in der Pony-Bar, auf dem Schützenfest oder im Internat: Der muss sich dringend fragen, ob es nicht besser wäre, mal einen echten Gedanken zu fassen. Keine Angst, er ist ganz simpel. Er handelt von der Freiheit aller und lautet: In Würde zusammenleben, des Menschen Würde nicht antasten, das meint: Respekt für die Würde aller. "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" tritt des Menschen Würde mit Füßen. Wie das Schreiben und Liken antisemitischer Posts. Nein, es ist wirklich nicht kompliziert. Jeder Mensch kann das denken. Und sich dann prüfen, wieviel inneres Grölen in ihm steckt. Und vielleicht erschrecken. Und etwas dagegen tun.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 31.05.2024 | 10:20 Uhr

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