Rechtsextremismus-Experte Kraske: Sylt-Video ist ein Warnsignal
Rassistische Entgleisungen wie in der "Pony"-Bar auf Sylt gebe es in allen gesellschaftlichen Bereichen, sagte der Rechtsextremismus-Experte Michael Kraske bei NDR Info live. Der Medienanwalt Jeremy Gartner sprach auch über mögliche juristische Konsequenzen.
"Sylt ist nur der Seismograf für das, was in diesem Land passiert." Michael Kraske, Journalist und Buchautor
Er sei vom Inhalt des Party-Videos aus dem Sylter Nobelclub "Pony" ganz und gar nicht überrascht gewesen, sagt der Journalist und Buchautor Michael Kraske, der in Leipzig lebt und seit Jahren zu Rechtsextremismus und Rassismus recherchiert. Und er könne auch nicht nachvollziehen, weshalb manche, die sich dazu äußerten, jetzt aus allen Wolken fielen. "Es gibt keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von diesen Tendenzen, von diesen Gefahren für die Demokratie betroffen wäre. Das ist der traurige Befund."
Das Sylt-Video und die Folgen
Ein schneller Beat, eine eingängige Melodie, ein simpler Text: "L'amour Toujours" von Gigi D'Agostino war ein ganz normaler Pop-Song, der in den 1990er-Jahren Erfolge feierte und eigentlich für eins steht: Liebe. Rund 20 Jahre später ist das Lied erneut in aller Munde, denn der rechtsextremen Szene ist es gelungen, ihre Ideologien und Botschaften in den Party-Song zu weben und zu verbreiten. Seit Tagen kursiert ein Video aus dem "Pony" in Kampen im Internet, in dem junge Menschen zur Melodie des Songs fremdenfeindliche Zeilen singen - und sich dabei filmen. Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art, aber er hat Schlagzeilen gemacht wie kein anderer. Warum?
Bereits im vergangenen Oktober sei ein Video von einem Volksfest in Mecklenburg-Vorpommern aufgetaucht, in dem der Song mit denselben rassistischen Parolen missbraucht worden sei, sagt Kraske - ebenso Anfang dieses Jahres ein Video aus Bayern. "Der Fall jetzt hat offenbar einfach nur aufgrund der Begleitumstände, des Ortes - Kampen, Sylt, Schickimicki-Atmosphäre - eine besondere Brisanz und Aufmerksamkeit bekommen."
Und so wird plötzlich publik, wie vielerorts in Deutschland auf Schützenfesten, Karnevalsveranstaltungen und in Internaten lautstark mit rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Parolen zu dem Lied gesungen und gefeiert wird. "'Deutschland den Deutschen, Ausländer raus' ist eine klassische rechtsextremistische Parole, die schon in den 1990er-Jahren von Neonazis verwendet worden ist, die auf Demos verwendet worden ist", sagt Kraske. "Jetzt sieht man, wie die in die politische Kultur, in die Party-Kultur Einzug hält. Das ist tatsächlich ein Warnsignal."
Kraske: Hemmschwellen massiv gesunken
Wenn selbst Menschen, die bürgerlich erscheinen, offenbar gedankenlos und ohne Tabus eine rechtsextremistische Parole in einem vermeintlichen Spaßumfeld mitgrölten, argumentiert Kraske, sei "ganz massiv ein Raumgewinn in der politischen Kultur zu verzeichnen". Grenzen des Sagbaren und Machbaren würden eingenommen. Auch das ist für ihn keine Überraschung: Studien würden belegen, dass gerade in der bürgerlichen Mitte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie die Abwertung von Musliminnen und Muslimen aber auch von Sinti und Roma, massiv zugenommen hat. "Da ist etwas ins Rutschen geraten." Hemmschwellen seien massiv gesunken.
Stoppschild zeigen, Konsequenzen ziehen
Der politische Zustand habe sich "radikal verschärft" in einem Umfeld, in dem die Zahl rassistischer, rechtsextremistischer und antisemitischer Gewalttaten zunehme und die AfD stärker werde. In den vergangenen Jahren habe vonseiten der Neuen Rechten eine massive Agitation und Mobilisierung mit Schlagwörtern wie "Masseneinwanderung", "Asylchaos", "Umvolkung", "Überfremdung" stattgefunden. Und nun gelinge es ihnen, solche Botschaften in die Party-Kultur zu bringen.
Damit bestehe die Gefahr, so Kraske, dass über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg sich Rassismus und Rechtsextremismus so festsetzten, dass sie akzeptiert würden. "Hier geht es ganz klar darum, gesellschaftlich das Stoppschild zu zeigen, Grenzen aufzuzeigen und auch Konsequenzen zu ziehen." Aus Worten und Gesang würden Taten, warnt Kraske.
NSU und Paulchen Panther: "Politische Mimikry"
Die Strategie, ein solches Lied zu kapern, sei wie ein Sechser im Lotto für die Neue Rechte. Sie versuche, "die kulturelle Hegemonie zu erobern, erst dann glaubt sie, die politische Macht wirklich erobern zu können". In der Neuen Rechten gebe es einen Begriff für dieses Vorgehen: politische Mimikry. Man greife in der Gesellschaft und im Kulturgut verankerte Begriffe auf, deute sie um und fülle sie mit eigenen, rechtsextremen Inhalten, erklärt Kraske und verweist auf die Trickfilmfigur Paulchen Panther, die vom NSU gekapert wurde, um damit zynische Videos herzustellen. Der D'Agostino-Song sei inzwischen zu einer Art Erkennungsmelodie für zahlreiche Internet-Videos mit rechtsextremen Inhalten geworden.
Medienanwalt: Arbeitnehmer unterliegen Rücksichtnahmepflicht
Für einige der Beteiligten hatte der Party-Eklat auf Sylt bereits arbeitsrechtliche Konsequenzen. Jeremy Gartner, Anwalt in einer auf Medien- und Internetrecht spezialisierten Kanzlei, erklärt, warum: Was ein Arbeitnehmer in seiner Freizeit mache, sei zunächst grundsätzlich dessen Privatsache. "Eine Ausnahme besteht jedoch, wenn außerdienstliches Verhalten auf die Arbeit durchschlägt. Arbeitnehmer haben eine Rücksichtnahmepflicht gegenüber ihrem Arbeitgeber." Daher sei im Sylter Fall eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt.
Wer derlei Taten nicht unterbinde, mache sich nicht strafbar, so Gartner. Auch eine Meldepflicht gebe es nicht. Er empfiehlt jedoch, solche Vorfälle nach Möglichkeit zu dokumentieren, im Zweifel jedoch lieber die Polizei zu rufen.
"Ausländer raus!" - Meinungsfreiheit oder Straftatbestand?
Ob das Grölen der rassistischen Parolen strafrechtlich geahndet werden kann, kommt auf die Bewertung der zuständigen Richter an. "Die reine Äußerung 'Ausländer raus!' ist in der Vergangenheit tatsächlich von Gerichten als Meinungsfreiheit eingeordnet worden, unter bestimmten Umständen", erklärt Gartner. "Allerdings haben wir hier die Situation, dass die Parole immer wieder wiederholt worden ist vor mehreren Menschen und auch noch ins Internet gestellt wurde. Deswegen kann hier durchaus der Straftatbestand der Volksverhetzung nach Paragraf 130, Strafgesetzbuch verwirklicht worden sein."
Im Fall des Hitlergrußes, den einer der beteiligten Party-Gäste auf Sylt angedeutet haben soll, sei die Gesetzgebung hingegen unzweifelhaft: "Der Hitlergruß ist eindeutig verfassungswidrig und wird in Deutschland nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt." Laut Gartner könnte eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe ausgesprochen werden abhängig davon, ob die Person vorbestraft ist oder nicht.
Umstritten sei unter Juristen, ob die Party-Gäste - wie in einigen Medien geschehen - unverpixelt gezeigt werden durften. "Das wird final wohl ein Gericht klären müssen. Es könnte teilweise zulässig gewesen sein, weil es sich um ein sogenanntes zeitgeschichtliches Ereignis handelt und das ist laut Bundesgerichtshof immer dann der Fall, wenn eine besondere Bedeutung für die Öffentlichkeit besteht." Auch im Sylter Fall könnte das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der mutmaßlichen Täter überwiegen.