KZ Bergen-Belsen: Kunst als Selbstbehauptung und Dokumentation
In der TV-Reihe "ARD History" geht es heute Abend um "Kunst aus dem Todeslager". Kein leichtes Thema - und doch hat Kunst, die in Vernichtungslagern geschaffen wurde, viel Hoffnung gegeben.
Ein Gespräch mit Stephanie Billib, die für die Presse und Kommunikation des ehemaligen Auffanglagers Bergen-Belsen zuständig ist.
Frau Billib, was wissen Sie über Kunst, die im Lager Bergen-Belsen entstanden ist? Wie war das überhaupt möglich?
Stephanie Billib: Bergen-Belsen ist kein Vernichtungslager gewesen, sondern ein Lager, das vor allem für sogenannte Austauschjuden eingerichtet wurde, mit dem Gedanken, Häftlinge möglicherweise ins Ausland zu entlassen und dafür eine Gegenleistung zu bekommen. Das bedeutet, dass diese Leute zum Teil auch Gepäck bei sich hatten und zum Beispiel auch Papier und Stifte, was ihnen die Möglichkeit gegeben hat, sich auszudrücken, indem sie Tagebuch geschrieben, gezeichnet oder gedichtet haben. Alles Sachen, die man sich im Rückblick gar nicht so recht vorstellen kann, wenn man die Umstände von Konzentrationslagern bedenkt, die aber alle passiert sind.
Was hat das für die Menschen bedeutet, wenn sie sich auf diese Art und Weise ausdrücken konnten?
Billib: Ich glaube, dass dieser Aspekt von Selbstbehauptung ein ganz wichtiger ist. Dass man als Häftling in einem Lager, wo man zu einer Nummer, zu einem Teil, zu einem Objekt reduziert wird, über solche Formen des Ausdrucks wieder zeigen kann: Ich bin ein Mensch, ich bin ein Individuum, ich habe Talente, Fähigkeiten, das ist mein Weg: Ich lebe, ich bin noch da! Ich glaube, dass das eine wichtige Rolle spielte. Andererseits wissen wir auch, dass es in solchen Fällen nicht nur um sich selbst ging, sondern viele Formen von Kunst sind auch Dokumentation gewesen dessen, was passiert ist. Auch für den Fall, dass man als Mensch nicht überlebt, dass aber dann etwas da ist, das bezeugen kann, was geschehen ist.
In Bergen-Belsen gab es eine junge Ungarin, die für ihre Mutter solche Bilder als Dokumentation gezeichnet hat. Sie hat überlebt. Wer war sie und was für Kunst hat sie erschaffen?
Billib: Das war eine junge Frau namens Zsuzsa Merényi, ihr Mädchenname war Schuller. Sie ist ironischerweise einige Zeit lang in Hannover aufgewachsen, war also in Bergen-Belsen gar nicht so weit von einem Teil ihrer Heimat entfernt. Sie ist im Dezember 1944 mit anderen mit einem großen ungarischen Transport aus Budapest nach Bergen-Belsen gekommen. Sie war mit ihrer Schwester zusammen im Lager, während die Mutter im Budapester Ghetto verblieben war. Sie hatte offenbar, wie sie später in einem Interview erzählt hat, den Gedanken: Ich brauche etwas, was mir hilft, hinterher meiner Mutter zu erzählen, was hier passiert ist. Und da sie auch so ein künstlerischer, kreativer Typ war, hat sie entschieden, kleine Zeichnungen anzufertigen. Sie hat angefangen, jeden Tag irgendetwas zu zeichnen - was ziemlich kindlich aussieht. Sie hat darüber versucht, ihre Geschichte in Bergen-Belsen zu zeichnen. Sie hat auch erzählt, dass sie immer bemüht war, die ganz grausamen Dinge auszulassen, damit sie ihrer Mutter eher etwas Humorvolles, etwas Ironisches erzählen kann und nicht im Nachhinein die Schrecken des Lagers berichten muss.
Das heißt, dass sie auch an ihr Überleben geglaubt hat, wenn sie gezeichnet hat und es weitergeben wollte, oder?
Billib: Davon gehe ich aus. Ich glaube, dass die allermeisten Häftlinge auf ihr Überleben gehofft haben. Das war auch bei den beiden Schwestern der Fall. Es hat sich auch mit den Häftlingen ringsum offenbar etwas gebildet, wo sie jeden Tag beraten haben, was an dem bestimmten Tag so spannend war, dass man das aufzeichnen konnte. Ich nehme es so wahr, dass sie an dieses Danach, an diesen Moment des Erzählens immer geglaubt hat und dass das sicher auch dazu beigetragen hat, dass sie überlebt haben.
Gedichte, Musik, Theater - man kann es sich kaum vorstellen, dass das unter diesen Bedingungen überhaupt möglich war. Wie kann man sich das vorstellen, wie konnten die Menschen da überhaupt kreativ sein?
Billib: Wir sprechen vor allem für Bergen-Belsen über den Bereich des Austauschlagers, der eine andere Situation darstellt, als die Lagerteile innerhalb von Bergen-Belsen, aber auch an vielen anderen Lagerorten, wo Häftlinge zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden, die nur ihre Häftlingskleidung hatten und weniger ausgestattet waren als die Menschen im Austauschlager, die, glaube ich, in dem Punkt ein wenig privilegiert waren. Als sie ankamen, hatten viele natürlich diese Hoffnung, weil es diesen Gedanken von Austausch gab. Sie hatten auch noch die Energie, nach vorne in eine Zukunft zu blicken. Außerdem stärkten auch diese kulturellen Zusammenkünfte den Zusammenhalt, den Glauben an die Zukunft und gaben auch Kraft, durchzuhalten. Das wird wahrscheinlich immer von Einzelnen initiiert, in jeweils einer Baracke, und wird dann aufgegriffen. Das kennen wir von heute auch: Es braucht oftmals einen Menschen, der als Motor dahintersteckt und so etwas organisiert und lostritt.
Kann man zusammenfassen, dass gerade gemeinsames Kulturerleben oder das Erschaffen von Kultur den Menschen geholfen hat, sich nicht nur als Opfer oder Gefangene zu fühlen, sondern auch als Mensch?
Billib: Das fasst es richtig gut zusammen.
Das Interview führte Julia Westlake.
"Kunst aus dem Todeslager" ist eine Koproduktion der niederländischen Produktionsfirma Sarphati Media Producties mit dem ORF, dem tschechischen Fernsehen Česká televize und dem MDR in Zusammenarbeit mit ARTE. Die Dokumentation läuft am 17. April ab 23.35 Uhr im Ersten.