Inklusion im Kulturbetrieb: "Wir sollten über Quoten nachdenken"
Schauspieler*innen mit Behinderung werden im Vergleich zu nichtbehinderten Darsteller*innen unfair behandelt - findet Raul Krauthausen, der sich für eine barrierefreie und inklusive Gesellschaft einsetzt.
Herr Krauthausen, wo sehen Sie im Kulturbereich bei Menschen mit Behinderung derzeit die größte Diskriminierung?
Raul Krauthausen: Die offensichtlichste Diskriminierung, die mir immer wieder auffällt, ist, dass nichtbehinderte Schauspieler*innen Rollen mit Behinderung spielen und dass das im ganzen Kulturkosmos relativ wenig kritisch hinterfragt wird. Denn im Prinzip ist es genau das gleiche wie weiße Schauspieler*innen schwarz anzumalen, um einen Schwarzen Charakter spielen zu können. Das macht man ja auch schon relativ lange nicht mehr.
Würden Sie sagen, dass ein nichtbehinderter Schauspieler eine behinderte Figur prinzipiell nicht darstellen darf?
Krauthausen: Ich rede nicht von dürfen, ich rede von können. Man erkennt einfach die Bewegungen, manchmal auch die falsch dimensionierten Rollstuhlmaße. Man sieht relativ schnell den Unterschied zwischen Tan Caglar, der wirklich im Rollstuhl sitzt, in der Serie "In aller Freundschaft" oder im "Tatort", oder Tom Schilling, der sich für den Film "Die Goldfische" mal kurz in den Rollstuhl gesetzt hat. Ich stelle einfach künstlerisch die Frage, ob das wirklich gute Kunst ist. Es ist einfach höchstwahrscheinlich so, dass ein Schauspieler mit Behinderung wesentlich glaubwürdiger und authentischer diese Rolle spielen kann.
Es geht auch nicht nur um die Schauspielerei, sondern um den gesamten Kunst- und Kulturbetrieb. Beim Entwickeln von Formaten und Geschichten, wo sehr wenig in Frage gestellt wird, warum behinderte Menschen eigentlich immer in Nebenrollen zu sehen sind, die letztendlich vor allem auch dafür herhalten, um den nichtbehinderten Schauspieler*innen die Gelegenheit zu geben, zu glänzen und sich hochzuarbeiten auf Kosten der behinderten Figur. Es gibt sehr wenige Figuren mit Behinderung, wo die Behinderung beiläufig erwähnt wird, die aber die Geschichte vorantreibt, sodass es nicht immer gleich das Kernthema ist, dass es nicht gleich ein Inklusionsfilm sein muss, sondern, dass die Person mit Behinderung auch mal die Mörderin oder die leidenschaftliche Liebhaberin sein kann.
Was ich in diesem gesamten Kontext noch ganz wichtig finde, ist, dass wir auch davon ausgehen sollten, dass behinderte Schauspieler*innen da draußen ausreichend existieren, aber ganz oft in solchen Produktionen gesagt wird: "Wir haben aber keinen gefunden." Das ist einfach nicht wahr, es gibt sie ausreichend. Wenn man denkt, dass es nicht genug gibt, dann sollte man sie ausbilden. Da stellt sich wiederum die Frage, warum so wenig Schauspieler*innen mit Behinderung in den Schauspielschulen ausgebildet werden, wenn sie doch alle behaupten, sie wären so vielfältig und inklusiv.
Ich habe vor kurzem bei einem Kinofilm beraten, wo es große Probleme bei der Produktion gab: Es hat sich keine Versicherung gefunden, weil die Hauptfigur eine Behinderung hatte und die Versicherung automatisch davon ausging, dass es ein höheres Ausfallrisiko gibt, wenn der Hauptcharakter eine Behinderung hat. Das ist natürlich ein Skandal, weil da quasi systemisch schon Ausschluss stattfindet.
Wir haben bei Schauspielschulen im Norden nachgefragt, ob sie überhaupt Menschen mit Behinderungen ausbilden, und die Antworten waren ziemlich ernüchternd, zum Teil wurde auf Workshops verwiesen. Was wäre Ihre Empfehlung? Wie müssten die Schulen aktiv werden? Es scheint ja nicht zu reichen, einfach nur zu warten, ob jemand kommt. Es gibt ja Bewerber*innen, die eine Behinderung haben.
Krauthausen: Ich denke, wir sollten hier über Quoten nachdenken, dass zehn Prozent der frei werdenden Plätze von Menschen mit Behinderung besetzt werden sollten. Dann beginnt natürlich auch eine ganz andere Suche nach diesen zehn Prozent. Mich ärgert es massiv in diesem ganzen Diskurs, dass immer so getan wird, als ob die behinderten Menschen irgendwo mitmachen wollen. Ich würde eher sagen, dass den nichtbehinderten Schauspieler*innen, Kunstschaffenden und vor allem Zuschauer*innen etwas entgeht, wenn wir ihnen immer nur die Menschen zeigen, die wir schon seit Jahrhunderten sehen. Aber es gibt Vielfalt in unserer Gesellschaft, und dann sollte diese Vielfalt auch auf Bühnen, in Museen und so weiter zu sehen sein.
Was mich an dem Wort "Teilhabe" ein bisschen stört, wenn es um Inklusion geht, ist, dass es etwas Passives ist: Es gibt zum Beispiel in einem Theater zwei Rollstuhlplätze, und damit wurde Teilhabe ermöglicht. Aber es gibt auch den Aspekt der Teilgabe, wo Menschen mit Behinderung auch etwas geben können. Das sind nicht immer nur Menschen, die etwas nehmen, sondern es sind meistens auch Menschen, die etwas zurückgeben können an die Gesellschaft - zum Beispiel Kunst, neue Perspektiven, Kreativität. Kreativität findet dann gar nicht statt, wenn der gesamte Kulturbetrieb nicht barrierefrei und inklusiv ist. Das ist nicht nur die Rampe oder der Aufzug, der fehlt, sondern vielleicht auch die Gebärdensprach-Dolmetschung oder vielleicht auch Unterstützung, die da nicht finanziert oder gewährleistet werden kann.
Was hat denn das Label "Inklusion" bei Theaterprojekten und Kunstausstellungen für Auswirkungen auf die Künstler*innen selbst? Was hören Sie da von Kolleg*innen, die auf der Bühne stehen?
Krauthausen: Ich höre von Kolleg*innen, dass das eine großartige Chance ist, um überhaupt mal größere Bühnenluft zu schnuppern. Sie hoffen aber auch, dass es irgendwann das Label "Inklusion" nicht mehr braucht. Es darf nicht etwas sein, das gönnerhaft rüberkommt und der oder die behinderte Schauspieler*in dafür dankbar sein muss. Sondern es sollte etwas sein, das sich in der Struktur wiederfindet. Das ist das, was sich fast alle Schauspieler*innen auch wünschen. Oft wird gesagt: "Aber es schaffen nun mal nicht alle Schauspieler*innen, auch ohne Behinderung, auf die Bühnen." Aber letztendlich schaffen es dann behinderte Schauspieler*innen erst recht nicht. Das müssen wir ändern, abbauen und auch die Durchlässigkeit erleichtern.
Das Interview führte Peter Helling.