In Nostalgie schwelgen: Rückhalt oder Rückschritt?
Zu viel Vergangenheit und zu wenig Zukunft? Der Historiker Tobias Becker hat sich intensiv mit dem Phänomen Nostalgie beschäftigt. Im Podcast Tee mit Warum diskutiert er über mögliche Probleme des sehnenden Blicks in die Vergangenheit.
Lähmt Nostalgie den Fortschritt, oder kann sie Rückhalt geben, sich in eine vergangene Zeit zu träumen? Der Historiker Tobias Becker lehrt an der Freien Universität Berlin. In seiner Habilitationsschrift "Yesterday: A New History of Nostalgia" hat er sich mit der Entstehung des Begriffs Nostalgie und seinem Wandel im Laufe der Zeit befasst. Becker meint: Die Kritik, dass Nostalgie die Menschen unfähig mache, ihre Gegenwart und Zukunft zu gestalten, hat sich nicht bewahrheitet. Einen Auszug des Gesprächs mit Tobias Becker lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Herr Becker, woher kommt der Begriff Nostalgie?
Tobias Becker: Der Begriff ist nicht so leicht zu fassen. Die Ursprünge sind relativ klar. Der Begriff wurde 1688 von einem Arzt erfunden, der seine Doktorarbeit in Medizin schrieb. Johannes Hofer beobachtete in der Schweiz ein vermehrtes Auftreten einer pathologischen, also krankhaften Form von Heimweh. Über die hat er sich damals in seiner Doktorarbeit Gedanken gemacht und hat dafür aus zwei altgriechischen Begriffen für Schmerz und Rückkehr - also aus nostos und algos - den Begriff Nostalgie geprägt, um einen medizinischen Fachbegriff zu finden, der eigentlich umgangssprachlich Heimweh bedeutet. Das war ein schweizerisch-deutscher Begriff, der in die deutsche Umgangssprache eingegangen ist.
Nun ist der Begriff, wie wir ihn heute verstehen, nicht mehr so stark gebunden an dieses Örtliche, das Zuhause. Welche Bedeutung hat Nostalgie heute? Wann hat sich das geändert?
Tobias Becker: Das ist noch nicht so lange her, wie man vielleicht denken könnte. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war Nostalgie kein besonders verbreiteter Begriff, sondern nach wie vor ein medizinischer Fachbegriff, der kaum in die Umgangssprache eingegangen ist. Das hat sich so um 1900 im Englischen verändert. Dann beobachtet man, wie es sich langsam von diesem räumlichen Sehnen löste, und es bezeichnet nun ein Sehnen nach der Vergangenheit.
Erstmals taucht diese neue Bedeutung in den englischen und amerikanischen Wörterbüchern in den 1960er-Jahren auf. In Deutschland kann man es ziemlich klar festmachen. Da war es nämlich ein "Spiegel"-Cover von 1973: "Nostalgie. Das Geschäft mit der Sehnsucht". Das hat quasi von einem Tag auf den anderen diese neue Form von Nostalgie oder diese neue Bedeutung aus dem Englischen im deutschsprachigen Raum etabliert.
1973 gilt als Jahr des Epochenbruchs, als Jahr mit der Ölkrise, in dem altes Denken oder auch ein gewisser Fortschrittsoptimismus der 1950er- und 1960er-Jahre stark angekratzt wird. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Problemen und der Nostalgiewelle der 1970er-Jahre?
Tobias Becker: Ja, so argumentiere ich in meinem Buch. Im deutschen Fall ist es besonders naheliegend, also die Ölkrise 1973, dann die wirtschaftliche Rezession, der Terrorismus der 1970er-Jahre und überhaupt im Grunde das Zusammenbrechen der Hoffnungen der Nachkriegszeit und dann der Studierendenbewegung der 1960er-Jahre und dergleichen. In den USA finden wir diese Merkmale schon in den 1960er-Jahren, wo es wirtschaftlich noch gut ging. Insofern kann man das nicht genau parallelisieren, dass man sagen würde, "allen geht es schlecht, also blicken sie zurück". Das ist vielmehr, wie die Intellektuellen in der Zeit Nostalgie verstanden wissen wollten. Die haben das überall beobachtet, in der Populärkultur, zum Teil auch schon in der Politik, und haben es darauf zurückgeführt, dass sich der Zukunftshorizont verdüstert und deshalb die Menschen vermehrt auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit zurückblicken.
Ich würde sagen, dass es noch ein wenig komplizierter ist, weil im Grunde viele dieser Intellektuellen versuchen, die Idee von Fortschritt zu retten. Man sieht, das wird in dieser Zeit schwierig, also schon in der Nachkriegszeit. Wir haben den Holocaust, Hiroshima und so weiter. Wir sehen, jeder Fortschritt ist im Grunde auch irgendwo einen Rückschritt oder kommt mit sehr hohen Kosten für Menschheit und Natur. Wie kann man überhaupt noch Fortschritt rechtfertigen? Das wird im 20. Jahrhundert immer schwieriger.
Das sehen wir heute auch mit der Klimakrise. Das Fortschrittsdenken an sich ist stark angekratzt. Es gar nicht so sehr, dass die Leute tatsächlich vermehrt zurückblicken, sondern die Intellektuellen machen das aus und werfen das den Menschen vor: Ihr schaut nicht mehr in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Dafür führen sie diesen Begriff Nostalgie ein, ohne dass ihnen das selbst in diesem Moment so klar ist. Es entspringt einem Missbehagen, weil in ihren Augen plötzlich zu viel Vergangenheit und zu wenig Zukunft da ist.
Wenn wir uns die heutige Situation mit vielen Zusammenbrüchen anschauen, kann man diesen Vorwurf heute auch machen. Ist der Vorwurf berechtigt, dass die Sehnsucht nach der guten alten Zeit eine Form von Eskapismus ist?
Tobias Becker: Das ist der Grundvorwurf. Das ist eine Flucht vor den Problemen der Gegenwart. Es ist eine Flucht vor der Zukunft, und deswegen ist Nostalgie so ein großes Problem, sagen die Kritiker. Weil das im Grunde die falsche Haltung ist. Wir sollen doch nach vorn schauen und die Zukunft gestalten und uns nicht zurückträumen. Zumal das in den Augen dieser Intellektuellen falsche Vorstellungen von Vergangenheit sind.
Ich würde sagen, da ist vielleicht etwas dran. Aber im Grunde ist das keine so große Sache oder etwas besonders Neues, das Krisenzeiten wie den 1970er-Jahren oder unserer Gegenwart anhängt. Im Grunde hat sich auch das ganze 20. Jahrhundert als Krisenzeit verstanden. Man findet eigentlich kaum Phasen seit dem Zweiten Weltkrieg, in denen nicht über Nostalgie gesprochen wurde und in denen das nicht verteufelt wurde.
Das ist kein so großes Problem. Die Intellektuellen, die das kritisieren, übertreiben das ein wenig, weil uns das im Grunde die ganze Zeit begleitet. Aber diese Vorstellung, dass es immer mehr Nostalgie gibt und dass das von den Problemen ablenkt und die Leute unfähig macht, ihre Gegenwart zu gestalten, das hat sich weder in diesen entsprechenden Phasen noch auf die lange Dauer erfüllt. Es ist im Grunde völlig normal, dass wir zurückblicken, auch um ein wenig Orientierung zu suchen und unsere Gegenwart zu erklären und besser zu verstehen. Das ist nicht per se nostalgisch. Da spielen viele Faktoren eine Rolle.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.