Wozu brauchen wir Identität? Ein Gespräch mit Alice Hasters
Wir müssen unsere Identität ändern, um die Krisen der Welt zu bewältigen, sagt Alice Hasters. Wie entstehen Identitäten - und sind sie wandelbar? Darüber spricht Hasters im Podcast Tee mit Warum.
"Identitätskrise" heißt das neue Buch der Autorin, Moderatorin und Speakerin. Darin geht es um die Diskrepanz zwischen der Realität und unserer Selbsterzählung - unserer Identität. Bereits mit ihrem Buch "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten" sorgte die langjährige Journalistin für viele Diskussionen. Auch zur Frage der Identität bezieht Hasters klar Stellung: Identitäten seien menschengemachte Konstrukte, die angesichts globaler Krisen überprüft und geändert werden müssen. Einen Auszug des Gesprächs mit Alice Hasters lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Alice Hasters, die Leitfrage dieser Podcast-Folge ist: Wozu brauchen wir Identität? Wenn wir einfach mal das "Wozu" weggelassen und uns fragen: Brauchen wir Identität? Hast du darauf eine Antwort?
Alice Hasters: Ich würde sagen, ja. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, wenn wir uns in einer Gruppe organisieren wollen, dann brauchen wir wahrscheinlich Identität. Wir brauchen eine gleiche Bezeichnung, dass ich sage "Du bist Denise", und du findest auch, dass du Denise bist. Das ist dann eine Identität, also die Übereinstimmung von innerer und äußerer Wahrnehmung. Wenn das nicht zusammengeht, dann hat man ein paar Identitätsprobleme. Ich glaube, dass Identität wichtig ist, um Gesellschaft zu organisieren und um sich orientieren zu können innerhalb einer Gruppe.
Wenn man sich zum Beispiel der Identität Mann oder Frau zuordnen muss oder einer Identität zugeordnet wird, umfasst das im Grunde die ganze Vergangenheit von Frausein und Mannsein in der Geschichte der Menschheit. Liegt nicht in diesen gesellschaftlichen oder gesellschaftlich gemachten Identitäten auch schon ein wenig Gewalt und Unterwerfung?
Hasters: Identitäten sind Konstruktionen. Egal, welche Identität man benennt, kann man immer fragen, ob das unterdrückend ist, denn Identität beinhaltet Abgrenzung. Die Frage ist: Ist bei diesen Konstrukten wie zum Beispiel Mann oder Frau alles mit abgedeckt? Oder gibt es etwas, was nicht in diese Konstrukte passt? Sind die Konstrukte zu eng, oder muss man sie innerhalb dieser Begrifflichkeiten erweitern? Oder muss man eine neue Kategorie schaffen?
Ich habe das Gefühl, dass wir uns oftmals sehr unwohl fühlen, über Identität zu reden. Der erste Impuls ist: Ich will mich gar nicht festlegen. Eigentlich wollen wir das gar nicht haben, weil das bedeuten würde, man kann nicht mehr wachsen, man kann sich nicht mehr verändern. Ich glaube, dass ist die Angst hinter Identität. Diese Feststellung, dass man dann festgelegt ist auf eine Sache. Auf der einen Seite haben wir Angst davor. Auf der anderen Seite sehnen wir uns total danach.
Dein Buch heißt "Identitätskrise". Woran lässt sich diese Krise sichtbar machen?
Hasters: An vielen Dingen. Mein Gedanke war, das die großen Krisen unserer Welt auch Fragen nach Identität aufwerfen. Wir sind daran gewöhnt, dass wir das Konzept Identitätskrise als ein sehr individuelles Problem sehen. Wenn man eine Identitätskrise hat, muss man selbst damit klarkommen. Ich fand es interessant, das zu verknüpfen mit den großen politischen Krisen und den großen Dingen, die jetzt gerade wanken.
Denn wenn man zum Beispiel die Klimakrise nimmt, dann können die Veränderungen, die diese Krise mit sich bringt, eine Identitätskrise auslösen. Wenn man merkt, dass durch die Klimakrise Konzepte - wie das viele Reisen - eventuell gefährdet sind, weil wir beim Reisen so viel CO2 ausstoßen. Das macht die Erde kaputt. Das heißt, eigentlich wäre es besser, nicht zu reisen. Aber es gehört zu meinem Selbstkonzept zu reisen. Kann ich das aufgeben? Oder würde das meiner Selbstverwirklichung und meiner Persönlichkeitsentwicklung im Weg stehen?
Du beziehst dich in deinem Buch auf die westliche Welt. Wir sehen uns nun all diesen Krisen ausgesetzt. Wie überwinden wir denn unsere Identitätskrise?
Hasters: Ich glaube, dass gesellschaftliche Konstrukte schon so gut eingebettet sind oder dass es sie schon so lange gibt, dass wir vergessen, dass sie konstruiert sind. Dass wir vergessen, dass wir das auch anders machen könnten. Dass wir unsere Welt auch anders gestalten könnten, dass all diese Dinge menschengemacht sind und dass es auch an uns Menschen liegt, diese Geschichte zu ändern, anders zu erzählen. Wir sollten die Wandelbarkeit von Identitäten viel mehr annehmen: diesen Aspekt, dass wir flexibel sind in dem, wie wir uns identifizieren, wie wir leben und wie unsere Lebensgestaltung oder unsere Gesellschaftsgestaltung aussieht. Ich wünschte mir mehr Mut und Offenheit und auch wieder eine Bewusstwerdung, dass wir das gestalten können und dass es an uns liegt, das zu gestalten.
Wenn wir uns radikal verändern müssen, was viele Krisen von uns als Gesellschaft verlangen, müssen wir verstehen, dass wir durch eine Identitätskrise müssen. Es ist auch total klar, dass das ein emotionaler Prozess ist. Ich wünsche mir ein bisschen Zuversicht, dass man durch diese Identitätskrise durchkommen kann. Das ist meine Idee, anstatt sich an alte Konstrukte zu klammern und Angst zu haben, dass sie uns aus den Händen gespült werden, dass wir wieder ein bisschen mehr Selbstbewusstsein haben, dass wir es in der Hand haben.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.