Krisenzeit? Mit Zuversicht der Angst begegnen
Zuversicht kann man trainieren, sagt Jürgen Wiebicke. Wie man mit einem Blickwechsel und Engagement zuversichtlich in die Zukunft schauen kann, erklärt der Journalist im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Jürgen Wiebicke ist freier Journalist und Autor. Er lebt in Köln, wo er auch Germanistik und Philosophie studiert hat. Seit 16 Jahren moderiert Wiebicke wöchentlich "Das philosophische Radio" auf WDR5. Außerdem gehört der Buchautor zu den Programmmachern der Phil.Cologne, dem internationalen Festival der Philosophie in Köln. Erst vor wenigen Monaten erschien sein Buch "Emotionale Gleichgewichtsstörung. Kleine Philosophie für verrückte Zeiten". Einen Auszug des Gesprächs mit Jürgen Wiebicke lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Herr Wiebicke, wie sieht ein richtiger Umgang mit unserer heutigen Situation aus, wenn wir auf die Krisen der Welt schauen?
Jürgen Wiebicke: Das allererste wäre anzuerkennen, dass wir die Angst niemals zum Verschwinden bringen können. Dass Angst zu jedem menschlichen Leben dazugehört, weil wir verletzliche und zerbrechliche Wesen sind. Das führt dann schon zu einem wichtigen Schluss: Dass es niemals ein Leben in vollendeter Sicherheit gibt. Wir werden nie ein sicheres Leben führen, weil unser Leben endlich und verletzlich ist. Wenn man sich das klar macht, dann ist das nicht eine düstere Perspektive auf mein Lebensende, sondern das macht den Weg frei, um anders auf das zu schauen, was ich im Moment erlebe. Das ist ein Weg hin zur Lebensfreude. Diese Lebensfreude, die brauchen wir so dringend, um uns nicht von der Angst überwältigen zu lassen.
Ich würde gerne etwas zu den Ängsten von heute sagen. Wenn ich mit Menschen bei Veranstaltungen diskutiere, dann nenne ich gerne ein Beispiel um klarzumachen, wie gerade unsere mentale Verfassung ist. Dann sage ich: "Stellen Sie sich bitte vor, ich sei ein Versicherungsvertreter, und ich könnte Ihnen eine Police anbieten, die Ihnen Ihr gegenwärtiges Leben auch für die nächsten 20 Jahre garantiert. Dann würden Sie alle diese Police kaufen." Und warum? Weil die Leute denken, dass sie sehr, sehr viel zu verlieren haben, weil die Leute denken, das unser Leben im Moment ganz schön viel zu bieten hat. Sehr viel Wohlstand übrigens auch im Vergleich mit vielen anderen Ländern. Sehr viel Sicherheit, sehr viel Frieden. Diese Haltung des Klammerns - ich weiß, dass sich die Welt gerade sehr verändert, aber ich möchte, dass alles so bleibt, wie es ist, auch im Politischen - ist eine ganz problematische Haltung.
Herr Wiebicke, woher nehmen wir denn die Zuversicht?
Jürgen Wiebicke: Sie kommt jedenfalls nicht vom Himmel gefallen. Und sie hängt auch nicht allein am persönlichen Temperament. Es gibt natürlich Menschen, die sind irgendwie Frohnaturen und denen scheint alles zuzufallen. Aber das Tolle ist, dass man das trainieren kann. Man kann den Blickwechsel einüben. Das ist übrigens auch für mich in dem Bild von der emotionalen Gleichgewichtsstörung enthalten. Ich glaube, dass es zu jedem individuellen Leben gehört, dass man immerzu versuchen muss, in eine Balance zu kommen. Es gibt auf der einen Seite die Hoffnungseite in jeder menschlichen Existenz. Es gibt die Zuversicht, da steckt ein "Ja" zur Welt drin. Auf der anderen Seite der Waagschale gibt es die Seite der Angst, des Pessimismus, des Verdrusses, der Wut, der Trauer, der puren Negativität.
Ich habe das Gefühl, im Moment ist die Waage sehr einseitig belastet. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir die Seite der Zuversicht stärken. Das ist auch ein Wechselverhältnis zwischen kollektiver Zuversicht, das eine ganze Gesellschaft sich etwas zutraut, aber auch einzelne Menschen. Weil die Welt herausfordernder geworden ist, müssen wir uns immer auch die Frage stellen: Was kann ich tun, wenn ich merke, dass ich in Negativität abrutsche? Wie kann ich verhindern, dass ich andere mit meiner Negativität anstecke? Ich muss etwas über meine eigene Emotionalität wissen, um einen anderen Umgang damit finden zu können. Das entspricht der Herangehensweise des französischen Philosophen Michel de Montaigne: Selbstbeobachtung, wissen, was mit einem los ist. Registrieren, in welcher mentalen Verfassung man für den Moment steckt, überlegen, wie kann ich das drehen?
Kann ein pessimistischer Blick nicht zunächst einmal dazu führen, dass man wachgerüttelt wird?
Jürgen Wiebicke: Ich schreibe ja über das, was in unserer Welt so krisenhaft geworden ist. Ich kenne das gut an mir selber, dass ich gar keinen Funken von Hoffnung sehe. Es gibt solche Momente natürlich auch in meinem Leben. Ich weiß aber, dass ich mich darin nicht einrichten kann. Nehmen wir allein das Thema Klimawandel. Es ist eine Problemstellung von einer so großen Dimension, dass wir für den Moment überhaupt noch nicht wissen, wie wir aus diesem Tunnel herauskommen. Das ist das Gegebene. Ich würde aber sagen, wenn ich nicht in Apathie geraten möchte, wenn die Ohnmacht nicht das letzte Wort haben soll, dann muss ich sozusagen mentale Überlebensstrategien der Verrückung entwickeln, um an dieser verrückten Welt nicht selber verrückt zu werden.
Ich denke, wir können durch tugendhaftes Handeln überhaupt das tugendhafte Handeln erst lernen. Man muss es einfach machen. Man muss sich die Frage stellen: Was ist das eigentlich, was Menschen ins Engagement für ein besseres Morgen führt? Und da ist es eine ganz praktische Anwendung. Nicht nur bezogen auf Klimawandel, sondern auch auf die Bedrohung unserer Demokratie, müssen wir unseren Demokratiemuskel stärken. So etwas macht man nicht durch Einrichten in der Unheilserwartung, sondern so etwas macht man durch Engagement, indem man den Demokratiemuskel trainiert. Unserer ist gerade sehr erschlafft. Aristoteles würde sagen: Ja, dann macht doch einfach was.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.