Holocaust-Überlebende auf TikTok: Oma und Enkel gegen das Vergessen
Tova Friedman hat als Kind das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Zusammen mit ihrem Enkel Aron arbeitet sie jetzt gegen das Vergessen - und produziert Videos für die Social-Media-Plattform TikTok, die millionenfach geklickt werden.
Als die Rote Armee Auschwitz am 27. Januar 1945 befreite, wusste sie zunächst nicht, was sie erwartet. Überall lagen Leichen, zwischen denen Menschen umher irrten. Es brauchte einige Wochen, bis die Rotarmisten die Überlebenden so weit mit Essen versorgt hatten, dass sie wieder laufen konnten. Unter ihnen waren 180 Kinder. Für Bilder, die ein sowjetischer Kameramann von ihnen machte, bat man sie, ihre Ärmel hochzuziehen und ihre tätowierten Häftlingsnummern vorzuzeigen.
Tova Friedman: "Ich überlebte nur durch ein Wunder"
Auch die sechsjährige Tova Friedman ist auf dem historischen Filmdokument zu sehen. Die 84-Jährige lebt heute in New Jersey. Dass sie dem Holocaust entkam, ist mit dem Wort "Glück" nicht restlos zu erklären. "Ich überlebte nur durch ein Wunder", erzählt Friedman. "1,5 Millionen Kinder wurden im Holocaust ermordet. Ich muss jetzt Zeugin sein für sie, für das, was ihnen angetan wurde. Denn sie sind nicht mehr da, um zu erzählen."
Tova Friedman war drei Jahre alt, als die Deutschen in ihre Heimat, die polnische Kleinstadt Tomaszów Mazowiecki, einfielen. Sie musste mit ihren Eltern und 13.000 anderen Juden zusammengepfercht im Ghetto der Stadt leben. In ihrem Buch "Ich war das Mädchen aus Auschwitz" erinnert sie sich an große SS-Männer in schwarzen Uniformen mit riesigen Hunden und an das ständige Sterben in den Häusern und auf den Straßen. "Von dem Moment an, da ich denken konnte, Erinnerungen habe, wusste ich nur eins: Juden haben zu sterben", erzählt Friedman. "Und Sie kennen ja Hitlers wahnsinnigen Plan: Hinterlasst keine Zeugen, tötet jeden, zerstört alles, verbrennt alles."
Erinnerungen an die Gaskammer in Auschwitz
Im Spätherbst 1944, Tovas Vater war nach Dachau deportiert und sie in Auschwitz von ihrer Mutter getrennt worden, musste sie zusammen mit 50 Kindern den Weg zur Gaskammer antreten. "Wir mussten uns im Vorraum ausziehen und warten, in eisiger Kälte. Ich wusste, dass es nun in einen Raum geht, aus dem man nicht mehr rauskommt. Ich sah den Raum mit dem kleinen Fenster. Ich erinnere mich nicht an alle Details. Ich weiß nur: Es war furchtbar kalt und die Kinder um mich weinten."
Plötzlich brüllten die SS-Männer, dass alle wieder raus sollten. Friedman erinnert sich, dass einer sagte: "Das ist der falsche Block, die kommen später dran." Der deutschen Vernichtungsbürokratie war ein Fehler unterlaufen.
Großes Feedback für Videos auf TikTok
Im Sommer vergangenen Jahres reiste Tova Friedman mit fünf ihrer acht Enkel nach Auschwitz. Einer von ihnen, Aron Goodman, filmte den Besuch. Er erzählt: "Als ich wieder zurück in der Schule war, wollte ich irgendetwas mit dem Drehmaterial machen. Also habe ich daraus einen Film geschnitten und ihn auf Youtube hochgeladen. Damit begann alles. Ich hab dann Teile daraus auf TikTok gestellt und wir bekamen ein sehr großes Feedback. Und ich habe zu Großmutter gesagt: Lass uns Videos drehen. Die Leute auf TikTok reden über den Holocaust - das ist ein großartiger Rahmen, um deine Geschichte zu erzählen."
"Ich hatte vorher nie was von TikTok gehört", sagt Friedman. "Bis mein Enkel mir davon erzählt hat. Viele wollten meine Häftlingsnummer sehen. Sie fragten: 'Ist das wirklich passiert? Zeigen Sie mal Ihre Nummer!' Sie waren geschockt, hatten noch niemals davon gehört." Ihr Enkel ergänzt: "Eine Menge unserer Videos sind Antworten auf Fragen, die wir bekommen haben. Das sind nicht nur ein oder zwei Leute aus meiner Stadt - wir reden hier von 60 Millionen Menschen weltweit."
Holocaust-Literatur: In Deutschlehrplänen nicht verbindlich
Friedmans Eltern überlebten - aber 150 andere Familienmitglieder nicht. Wie verhindert man, dass Geschichten wie ihre vergessen werden? Ein wichtiger Ort ist die Schule - diesen Ort besuchen alle nachkommenden Generationen. Aber ausgerechnet in Deutschland, wo die "Endlösung" erdacht wurde, kommt Holocaust-Literatur in den Lehrplänen nicht verbindlich vor. Der Germanistik-Professor Sascha Feuchert hat jetzt zusammen mit dem Verband der Deutschlehrer einen offenen Brief an die Kultusministerkonferenz verfasst. Darin wird Holocaust-Literatur als verpflichtender Bestandteil der Deutschlehrpläne gefordert.
"Also ich glaube, dass der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, sicherlich die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie waren, als wir sehr schiefe Vergleiche gesehen haben", so Feuchert, der die Arbeitsstelle Holocaust-Literatur an der Universität Gießen leitet. "Ein Mädchen, das seinen Geburtstag in Isolation verbringen musste, hat sich mit Anne Frank verglichen. Das waren so Erscheinungen, die uns deutlich gemacht haben, dass wir Dinge ändern müssen." Feuchert tritt vehement gegen Tendenzen ein, einen Schlussstrich zu ziehen: "Ich glaube nicht, dass wir aufhören dürfen, darüber zu erzählen. Denn was wäre die Alternative? Wenn wir aufhören, gesellschaftlich relevant über den Holocaust zu sprechen, dann ist er irgendwann weg. Und was weg ist, kann sich möglicherweise auch wiederholen."
"Viele der Holocaust-Überlebenden sterben jetzt"
Jene, die Hitlers "Endlösung" überlebt haben, werden uns verlassen. Erinnerungen wie die von Tova Friedman erzählen uns, was wir bis heute als "unvorstellbar" und "unbegreiflich" beschreiben. "Mir wurde klar, dass ich mich mit dem Buch beeilen muss", so Friedman. Wer weiß, wieviel Zeit ich noch habe? Viele der Holocaust-Überlebenden sterben jetzt. Ihre Geschichten drohen verloren zu gehen. Und ich möchte nicht, dass sie verloren gehen."