Christian Baron © picture alliance/dpa Foto: Markus Scholz

"Armut diskriminiert": Ein Gespräch mit Christian Baron

Stand: 29.09.2024 06:00 Uhr

Mit "Ein Mann seiner Klasse" schrieb Christian Baron einen Roman über sein Aufwachsen in Armut. Die ARD hat den Roman jetzt verfilmt. Er steht bereits in der ARD Mediathek. Im Interview spricht der Autor über seine Kindheit und die Verfilmung seines Buches.

Der Vater war Alkoholiker, die Mutter depressiv, die Kindheit ein Grauen. Vor vier Jahren beschrieb Christian Baron sein Heranwachsen in Armut in seinem autobiografischen Roman "Ein Mann seiner Klasse" und wirbelte damit viel Staub auf. In sozial äußerst prekären Verhältnissen aufgewachsen, schaffte Baron es, als erster seiner Familie die Armut zu verlassen, aufs Gymnasium zu gehen und Journalist zu werden. Warum das nur mit Glück gelang und mit Menschen, die an ihn glaubten, erzählt er im Gespräch.

Das Erste hat Christian Barons Lebensgeschichte verfilmt. "Ein Mann seiner Klasse" ist dort am 2. Oktober 2024 ab 20.15 Uhr zu sehen oder jederzeit in der ARD Mediathek.

Der titelgebende "Mann seiner Klasse" ist Ihr Vater, und was das Buch und der Film auch unmissverständlich klarmachen: Ihr Aufwachsen mit diesem Vater war das Gegenteil einer Bilderbuch-Kindheit. Armut, Benachteiligung, Gewalt, Alkohol - davon war Ihr Großwerden geprägt. Wie wurde Ihnen klar, dass Sie ein Buch über ihre Kindheit und Ihre Erfahrungen in Ihrer Familie schreiben möchten?

Christian Baron: "Ein Mann seiner Klasse" © Claassen bei Ullstein
"Ein Mann seiner Klasse" ist als Ullstein Taschenbuch zum Preis von 12,99 Euro im Handel erhältlich.

Christian Baron: Der Impuls kam eigentlich eher von außen. Ich habe einige Jahre als Journalist gearbeitet, mich da auch schon mit der Sozialpolitik beschäftigt und die soziale Ungleichheit thematisiert, die mich immer schon sehr aufgeregt hat. Das habe ich aber immer am Beispiel anderer Menschen gemacht: Reportagen geschrieben oder Kommentare zu aktuellen Geschehen in der Politik. Irgendwann kam dann in der Redaktion, in der ich gearbeitet habe, die Idee auf, zum Frauentag eine spezielle Ausgabe zu machen, nämlich kritisch über Männlichkeit zu schreiben. Und da sollten jemand auch über seinen Vater schreiben. Ich ahnte schon, was passieren würde, habe mich in mein Büro zurückgezogen und hoffte, dass mich niemand findet. Mein Chef hat mich dann doch gefunden und gesagt: "Ich weiß von den Mittagessen-Gesprächen, wie es bei dir so war - schreib du das einfach mal auf. Es muss nicht journalistisch sein. Du kannst es auch literarisch machen." Ich habe überlegt und meine Familie gefragt, die einverstanden war. Dann habe ich innerhalb von drei Stunden einen Text geschrieben, der hieß "Ein Mann seiner Klasse", und es ging um das Verhältnis des kleinen Christian zu seinem Vater. Der Text ging durch die Decke: Ich habe so viele Reaktionen bekommen wie noch nie auf einen Text. Dann kam auch der Literaturbetrieb, und einige Leute sagten: "Schreib doch die ganze Geschichte auf, das würde viele Leute interessieren." Das war dann wie ein Rausch: Innerhalb eines halben Jahres stand der Text. Und was danach kam, das war sowieso völlig irre, hätte ich nie gedacht.

Ich kann mir vorstellen, dass mit der Zeit reale Erinnerungen und die Rezeption davon miteinander verschwimmen. Ihre Geschichte ist jetzt längst die Geschichte von den vielen anderen geworden, die das Buch gelesen, den Film oder das Theaterstück gesehen haben. Wie groß ist Ihr Abstand inzwischen zu Ihrer Kindheit und zur Armut, mit der Sie aufgewachsen sind?

Baron: Ich weiß gar nicht, ob das Wort "Abstand" der richtige Begriff ist. Ich habt es irgendwie hingekriegt, dass ich das auf einer anderen Ebene betrachten kann. Es ist nicht einfach nur ein Trauma, das ich noch mal durchlebe oder das ich verarbeiten muss, sondern in dieser Geschichte steckt so viel Universelles, womit Leute sich identifizieren können, die überhaupt nicht so aufgewachsen sind wie ich. Sei es die Problematik, dass die Mutter Depressionen hat oder dass der Vater ein Trinker ist - das kommt ja nicht nur in armen Familien vor. Auch die politische Dimension, die diese Sache hat. Das kann ich jetzt wesentlich besser betrachten als noch vor fünf Jahren. Es liegt daran, dass ich mich getraut habe, ganz offen zu sagen, dass es meine Geschichte ist. Diese Geschichte gehört jetzt nicht nur mir - ich habe sie von der Leine gelassen und kann ein bisschen beobachten, was sie so treibt.

Wie war es, die Verfilmung anzugucken, die in manchen Momenten durchaus auch drastisch ist, eine Verfilmung, wo ein kleiner Junge im Zentrum steht, und der heißt Christian Baron?

Baron: Das ist wirklich surreal. Mein erster Eindruck war: Ist da jetzt so ein Riss in der Matrix? Als ich zum ersten Mal zum Filmset in Kaiserslautern kam, sehe ich auf dem Bildschirm, wie der kleine Christian ein Bier zapfen darf für seinen Vater. Da war es um mich geschehen. Ich habe gedacht: Das kann jetzt wirklich nicht wahr sein. Das ist eine Situation, die ich genauso selbst erinnere - und das wird jetzt aufwendig von einem sehr guten Filmteam umgesetzt. Das war ungläubig und glücklich - das ist ein ganz eigenartiger Gefühlsmix. Nachdem ich den fertigen Film zum ersten Mal gesehen habe, war ich sehr überrascht darüber, dass ich das als eigenständiges Kunstwerk wertschätzen kann und nicht die ganze Zeit denke: Oh, das ist ja ganz schlimm. Weil ich habe das so erlebt. Insofern ist auch da die andere Ebene schon eingezogen.

Das Gespräch führte Mareike Gries (SWR).Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 29.09.2024 | 15:00 Uhr

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