VIDEO: Der sogenannte Clinocopter wurde vorgestellt (ohne Ton) (1 Min)

NDR Serie "Was war da los?": Eine rettende Kiste mit Flügeln

Stand: 03.02.2024 05:00 Uhr

Anfang der 1960er-Jahre präsentiert eine Firma aus dem Raum Hannover einen geflügelten Container, mit dem sie die Notfallversorgung revolutionieren will - aus der Luft. Heute erinnert fast nichts an den "Clinocopter". Eine Spurensuche der NDR Serie "Was war da los?".

von Yasmin Sibus

Das Knattern von Rotorblättern kündigt seine Ankunft an. Je näher der Bundeswehr-Hubschrauber kommt, desto deutlicher ist auf der angehängten silberfarbenen Gondel das Wort "Clinocopter" zu erkennen. Die Piloten setzen den geflügelten Behälter auf dem Boden ab, die Landung wird von auf der Unterseite angebauten aufblasbaren Schwimmern abgefedert. Mehrere Männer in Overalls laufen zum "Clinocopter", um einen Generator aus dem Inneren zu holen und um an dem Leichtbaubehälter ein Außenzelt anzubringen. Dann betritt ein Mann in langem weißen Kittel das seinerzeit wohl kleinste Krankenhaus im Format 8,10 Meter mal 3,80 Meter, in dem selbst Operationen möglich sein sollen. So wie hier - bei einer nicht genauer bekannten Präsentation in Hannover im Oktober 1961 - wird der "Clinocopter" seinerzeit häufiger in den Medien vorgestellt.

Firma entwickelt Fahrzeuge und Konzept fürs Rettungswesen

Auf einer Kreuzung zwischen Rendsberg und Hamburg sind im Jahr 1956 ein BMW V6 und ein Moped des Typs Schwalbe zusammengestoßen. © picture-alliance / Maximilian Schönherr Foto: Maximilian Schönherr
Mit der zunehmenden Motorisierung steigt in den 1950er- und 1960er-Jahren in der Bundesrepublik die Zahl der Unfälle. Immer mehr Menschen sterben auf der Straße oder leiden an den Folgen.

Entwickelt hat das bis dato unbekannte Flugobjekt die Firma Multident in Langenhagen bei Hannover, die später in Clinomobil-Hospitalwerk umbenannt wird. Deren Geschäftsführer Hermann Heise, laut dem Magazin "Der Spiegel" ein ehemaliger "Kleinfabrikant zahnmedizinischer Artikel", hat die Gesellschaft Mitte der 1950er-Jahre gegründet und seither unter anderem Krankentransporter entwickelt. Zudem hat er ein eigenes Konzept für einen landesweiten Notarztdienst ausgearbeitet. Das Ziel: "schnelle ärztliche Hilfe am Unfallort: Transport der Schwerverletzten unter ärztlicher Aufsicht". Ein staatlich geregeltes, flächendeckendes Rettungswesen gibt es damals nicht. Oft übernehmen Ehrenamtliche die Verletzten- und Krankentransporte. Sanitäter und Ärzte sind in der Regel nicht vor Ort. Die Fahrzeuge sind zudem nur mit einem Fahrer besetzt, ausgestattet sind sie mit Verbandsmaterial und manchmal einem Sauerstoffgerät. Funkgeräte gibt es auch nicht. Das Prinzip heißt: "Rückspiegelrettung" - der Fahrer schaut gelegentlich in den Innenspiegel, um zu sehen, wie es dem Patienten geht.

Viele Unfalltote in 1960er-Jahren: "Clinocopter" soll das ändern

Die Zeitschrift Bevölkerungsschutz des Bundesinnenministeriums berichtet Anfang der 1960er-Jahre über den Clinocopter. © Bundesinnenministerium
Die Zeitschrift "Ziviler Bevölkerungsschutz" stellt den "Clinocopter" Anfang 1963 ausführlich vor. Hinweise, dass er tatsächlich in einer Notfallsituation getestet wurde, gibt es in dem Heft nicht.

"Täglich sterben in der Bundesrepublik 100 Menschen den Unfalltod; etwa 40 fallen dem Moloch Verkehr zum Opfer", beginnt ein Artikel über den "Clinocopter", der 1963 in der Zeitschrift "Ziviler Bevölkerungsschutz" des Bundesluftschutzverbands erscheint - einer Vorgängerorganisation des heutigen Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Hauptgrund für die vielen Todesfälle sind der zunehmende Autoverkehr und die gleichzeitig steigenden Unfallzahlen. Clinomobil-Chef Heise will deshalb durch den Transport einer Klinik zum Patienten über den Luftweg wichtige Zeit zu gewinnen und mehr Leben zu retten. Denn damals dauert es meist sehr lange, bis verunglückte oder kranke Menschen von einem Krankentransporter abgeholt und in eine Klinik gebracht werden. Viele sind bereits bei der Ankunft tot.

Weser Flugzeugbau entwickelt und testet Gondel

Seiten aus einem Bericht der Weser Flugzeugbau über den Clinocopter. © Hubschraubermuseum Bückeburg
Den Leichtbau-Behälter für den "Clinocopter" entwickelt und testet die Bremer Firma Weser Flugzeugbau in Nordenham. Ein Bericht von damals wird im Hubschraubermuseum Bückeburg aufbewahrt.

Über die Entstehungsgeschichte des "Clinocopters" - ob er etwa eine Initiative Heises ist oder eine Auftragsarbeit - ist kaum etwas bekannt. Den Behälter für den "Clinocopter" entwickelt das Bremer Unternehmen Weser Flugzeugbau. Das erste Mal getestet wird er im Herbst 1960 in Einswarden, einem Stadtteil von Nordenham (Landkreis Wesermarsch). Das zeigen Unterlagen der 1961 aufgelösten Firma, die inzwischen im Hubschrauber Museum Bückeburg (Landkreis Schaumburg) aufbewahrt werden. Für den Transport stellt die Bundeswehr demnach einen Sikorsky-Hubschrauber vom Typ "S-58" - später als "H-34" bekannt - bereit. Die Mitarbeiter beobachten dabei besonders, wie sich die Gondel bei Start und Landung und wie auf längeren Flügen verhält - in diesem Fall nach Hamburg. Die Innenausstattung ist dem Bericht zufolge umfassend und ausgefeilt - neben Geräten wie Klimaanlage, Luftentkeimungsanlage, Narkosegerät, Sterilisator und Röntgengerät gehören Schränke mit Instrumenten und Verbänden dazu.

"Clinocopter" Anfang der 1960er in Kino und Fernsehen zu sehen

Ob der "Clinocopter" jemals bei Unfällen oder anderen Notfällen zum Einsatz gekommen ist, ist nicht bekannt - aber unwahrscheinlich. Sämtliche Medienberichte über den fliegenden OP zeigen offizielle Präsentationen der Miniklinik oder lediglich die Gondel an einem Hubschrauber hängend. Am 18. Oktober 1960 berichtet etwa die im Kino ausgestrahlte "Neue Deutsche Wochenschau" über die Einweihung der Logistik-Schule der Bundeswehr in Hamburg-Altona - und zeigt dabei den "Clinocopter", der gerade abtransportiert wird. Etwa ein Jahr später verzeichnet die Tagesschau die Präsentation des "Clinocopters" in Hannover, bei der unter anderem Clinomobil-Mitarbeiter zu sehen sind, die an das mobile Krankenhaus nach der Landung ein Zelt anbauen und in dem medizinisches Personal das Versorgen eines Patienten simuliert. 1962 stellt das britische Äquivalent der Wochenschau, die "Pathé News", den OP unter dem Titel "Copter Doctors" als "transportabelsten Operationssaal weltweit" vor.

Wo ist die geflügelte Gondel geblieben?

Ein Sikorsky-Hubschrauber der Bundeswehr fliegt mit einem sogenannten Clinocopter, einem mobilen OP auf dem Gelände der Heeresflieger-Waffenschule in Bückeburg. © Rolf Reinhardt Foto: Rolf Reinhardt
Ein weiterer kurzer Auftritt des "Clinocopters", festgehalten vom damaligen Soldaten Rolf Reinhardt - vermutlich beim Flugtag der Heeresflieger-Waffenschule in Bückeburg im Mai 1960.

Bald darauf verschwindet der "Clinocopter" aus der Öffentlichkeit - und offenbar auch aus der Wahrnehmung potenzieller Nutzer. Weder das inzwischen für den Rettungsdienst zuständige niedersächsische Innenministerium noch das dem Bundesinnenministerium unterstellte Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe finden auf NDR Anfrage Informationen zu dem mobilen OP. Dasselbe gilt für die Bundeswehr: Nachfragen in mehreren Presseabteilungen bleiben ohne Erfolg. Selbst "die Militärhistoriker an der Sanitätsakademie haben in den vergangenen Wochen zu Ihrer Anfrage recherchiert und das Thema auch im erweiterten Fachbereich (teils international) diskutiert", jedoch nichts gefunden, was den "Clinocopter" betrifft, so eine Antwort auf die NDR Anfrage. Ebenso prüft das Heer das "Anliegen am Standort Bückeburg durch das Kommando Hubschrauber sowie das Internationale Hubschrauberausbildungszentrum" - ergebnislos.

War "Clinocopter" das Ergebnis "überschäumender Phantasie"?

Dass die Geschichte des "Clinocopters" so schwer nachzuvollziehen ist, spricht dafür, dass er nicht weiter und insbesondere nicht in Serie gebaut wurde. Er könnte eine von vielen nicht unbedingt alltagstauglichen Ideen des Clinomobil-Gründers Hermann Heise gewesen sein. Dafür spricht, dass er laut "Spiegel" als Unternehmer mit "überschäumender Phantasie" galt. "Obwohl die Clinomobil GmbH nur eine Million Mark Grundkapital besaß, gab Heise fünf Millionen Mark für technische Experimente aus", schreibt das Nachrichtenmagazin 1967 zum Konkurs des Unternehmens. Die Gesellschaft sei letztlich daran zusammengebrochen, dass sie neben mobilen Objekten noch stationäre Kliniken gebaut habe und dann zahlungsunfähig geworden sei. Von einer Klinik-Gondel ist da keine Rede mehr. Auch die örtliche Wochenzeitung "Langenhagener Echo" schreibt im Zuge der Pleite 1966 lediglich von mobilen "Krankenhauseinrichtungen in Fahr- und Flugzeugen" sowie stationären Kliniken. Neben einigen Zeitungsartikeln, die im Stadtarchiv Langenhagen verwahrt werden, gibt es dort keine Unterlagen zu den Clinomobil-Hospitalwerken und dem "Clinocopter".

Gondel-Hersteller entwickelt später ähnlichen Universalbehälter

Eine Zeichnung zeigt den Aufbau des Clinocopters von innen. © Bundesinnenministerium
Der "Clinocopter" war mit zwei Räumen konzipiert: In einem sollte der OP sein, im anderen ein Untersuchungsraum. Mithilfe eines Zelts konnte ein dritter Raum bereitgestellt werden.

Das Nachfolgeunternehmen der Weser Flugzeugbau, die Vereinigten Flugtechnischen Werke (VFW), baut den "Clinocopter"-Behälter offenbar nicht weiter. Allerdings ähnelt deren Fabrikat "Shelter FW" der Gondel und kann dem Hersteller zufolge ebenfalls als sogenanntes Medimobil eingesetzt werden. Die VFW bewerben den in drei Größen erhältlichen Shelter unter anderem als Messstation, Geräteraum, Luftfrachtcontainer und Personalunterkunft, der per Lastwagen, Zug und Hubschrauber transportiert werden kann - ein Universalbehälter also. Beim aktuellen Rechtsnachfolger der VFW, dem Luftfahrtkonzern Airbus, gibt es keine Unterlagen mehr zum "Clinocopter".

Historiker: "Clinocopter" dürfte an Kosten gescheitert sein

"Es würde mich wundern, wenn der 'Clinocopter' mehr als ein paar Jungfernflüge gehabt hätte", sagt Historiker Nils Kessel von der Universität Straßburg. Aus seiner Sicht ist der mobile OP eine "Orchidee" - ein beeindruckender Versuch, Patienten eine optimale Versorgung zu ermöglichen. Das Prinzip setze allerdings auf eine Technik, die sehr teuer und personalintensiv sei und damit "nicht geeignet für Alltagsrettung". Unternehmen wie Clinomobil aus Langenhagen habe es seinerzeit einige in der Bundesrepublik gegeben, sagt der Autor der "Geschichte des Rettungsdienstes 1945-1990". Meist seien sie von Handwerkern und Mechanikern gegründet worden und hätten enormes kreatives Potenzial gehabt - aber in der Öffentlichkeit hinter der Dominanz der Ärzte zurückstecken müssen, so Kessel weiter. Innovationen seien oft als vermeintliche Pionierarbeit von Medizinern bekannt geworden.

Langer Weg zum Rettungswesen: Zunächst "Taxi mit Blaulicht und Arzt"

In den 1960er-Jahren machen Versicherungen und Organisationen wie die Björn-Steiger-Stiftung zunehmend Druck, ein bundesweites Rettungswesen aufzubauen. Neben besser ausgestatteten Transportern kommen ab 1964 Notarzteinsatzfahrzeuge zum Einsatz - zunächst noch "ein Taxi mit Blaulicht und Arzt", schildert Historiker Kessel. Ergänzend dazu bauen die Bundesländer ab den 1970er-Jahren eine Luftrettung auf, die mit umgebauten Helikoptern unter anderem schnelle Patiententransporte in Spezialkliniken ermöglicht. Fliegende Kliniken nach dem Vorbild von Hermann Heises "Clinocopter" gibt es im zivilen Rettungswesen allerdings bis heute nicht.

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