1974 fiel in Hamburg der erste finale Rettungsschuss
Ein Bankräuber nimmt am 18. April 1974 in Hamburg mehrere Geiseln. Als er mit einer von ihnen draußen kommt, erschießen Polizisten den Mann gezielt. Es ist der erste finale Rettungsschuss in Deutschland.
Ein Mann in Badehose steht an der Fahrertür eines Autos, mit der rechten Hand rauft er sich die Haare. Was zunächst unfreiwillig komisch wirkt, ist alles andere als witzig. Denn das Gebäude ist Schauplatz eines Verbrechens: ein Banküberfall mit anschließender Geiselnahme.
Es ist Donnerstag, der 18. April 1974, kurz nach 12 Uhr. In der Commerzbank am Steindamm 50 im Hamburger Stadtteil St. Georg herrscht reger Betrieb, als Humberto Martin-Gonzales, bekleidet in einer blauen Jacke, die Filiale betritt. Der aus Kolumbien stammende Ingenieur-Student geht zunächst an einen der Schalter. Plötzlich zieht er eine Beretta und ein Messer aus der Tasche. Der 28-Jährige bedroht Bankangestellte und Kunden - und fordert die Herausgabe des Geldes. Einem Bankmitarbeiter gelingt es, noch unbemerkt den stillen Alarm auszulösen.
Polizist stirbt beim Betreten der Commerzbank in St. Georg
Um 12.26 Uhr rasen drei Streifenwagen der nächstgelegenen Polizeiwache mit Blaulicht und Martinshorn zum Tatort. Ein einsatztaktischer Fehler, wie sich später herausstellen soll. Zwei der Polizisten des in der Nähe befindlichen Polizeireviers 18 betreten bewaffnet die Bank, augenblicklich fallen Schüsse. Dabei wird Uwe Faden tödlich getroffen, sein Kollege verletzt. Gonzales verschanzt sich daraufhin in der Bank, in seiner Gewalt sieben Geiseln. Um 12.35 Uhr wählt der Täter die Notrufnummer 110 der Polizeizentrale an und verlangt nach einem Fluchtwagen.
Schaulustige versammeln sich um den Tatort am Steindamm
Die lauten Sirenen locken auch Unbeteiligte an. Um Schaulustige vom Tatort fernzuhalten, meldet der NDR in Absprache mit der Einsatzleitung einen Wasserrohrbruch in dem Gebiet. Doch die fingierte Meldung hält viele Menschen nicht davon ab, zum Ort des Geschehens zu strömen. Hunderte von Schaulustigen versammeln sich rund um den Tatort und behindern so die Arbeit der Beamten. Die Polizei ruft die Umstehenden immer wieder zur Ordnung und weist sie an, das Gebiet umgehend zu verlassen.
Eskalation ruft Mobiles Einsatzkommando auf den Plan
Aufgrund der Gefahrenlage räumt die Polizei schließlich den kompletten Straßenzug und auch angrenzende Gebäude. Den Einsatz leitet zu diesem Zeitpunkt bereits die Kriminalpolizei. Geiselnahme, Schüsse in der Bank: Durch die Eskalation der Situation hat die Kripo keine andere Wahl, als das Mobile Einsatzkommando, kurz MEK, anzufordern. Scharfschützen postieren sich auf den umliegenden Dächern. Gonzales fordert im Telefonat mit der Einsatzleitung erneut einen Fluchtwagen und droht damit, Geiseln zu erschießen. MEK-Kräfte bringen sich im Nebeneingang der Bank in Stellung.
MEK-Strategie: "Lösung des Falles vor Ort"
Es beginnt ein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Geiselnehmer. Um 13.09 Uhr gelingt es einem MEK-Beamten, in einen Nebenraum der Schalterhalle einzudringen. Ein wichtiger Schachzug, denn beim Blick durchs Schlüsselloch gewinnt er Erkenntnisse über die Lage, den Täter und den Zustand der Geiseln. Zur gleichen Zeit verschanzen sich weitere MEK-Beamte im Eingang des Buchladens neben der Bank. Ziel und Taktik der damaligen Polizeiführung: "Lösung des Falles vor Ort. Der Täter sollte, wenn es irgendwie geht, diese Örtlichkeit nicht verlassen", erläutert Erwin Kruse. Er ist damals als MEK-Beamter im Einsatz.
Gonzales setzt Ultimatum und fordert einen Fluchtwagen
Um 13.40 Uhr meldet sich Gonzales erneut bei der Einsatzzentrale und stellt ein Ultimatum. Innerhalb der nächsten 20 Minuten will er einen weißen Ford als Fluchtfahrzeug vor der Bank stehen haben. Andernfalls werde eine der Geiseln sterben. Die Polizei kontert, innerhalb dieser Frist sei das nicht möglich. Das Ultimatum verstreicht. Der Einsatzleitung gelingt es, den Täter hinzuhalten. Um 14.26 Uhr kommt schließlich das Fluchtfahrzeug vor die Filiale gefahren. Dreimal parkt das Auto auf Geheiß des Geiselnehmers um - immer näher in Richtung Tür der Bank. Bis auf 50 Zentimeter an die Ladenfront heran. Aus dem Ford steigt ein Beamter, ausschließlich mit Badehose bekleidet. Sein Zeichen dafür, dass er unbewaffnet ist.
Täter bedroht Geisel und verlässt die Bank
Drei Meter entfernt wartet das MEK auf den Zugriff. Doch zunächst weist Gonzalez eine weibliche Geisel an, die Heck- und Seitenscheiben des Fluchtautos mit schwarzer Farbe einzusprühen. Die Polizei soll möglichst wenig Einblick haben. Für die Polizeiführung steht weiterhin fest: Der Täter muss beim Verlassen der Bank überwältigt werden. Die Spezialeinheit macht sich bereit für den Zugriff. Sie plant, den Täter gezielt zu erschießen. Ein auf der anderen Straßenseite postierter MEK-Beamter informiert seine Kollegen über Funk: "Täter am Eingang. In der linken Hand ein Messer an der Kehle einer Geisel. Rechte Hand Schusswaffe. Jetzt - Täter tritt ins Freie."
Um 15.44 Uhr verlässt eine erste Geisel die Bank. Dann tritt auch Gonzales heraus, vermummt. In seiner Gewalt: eine männliche Geisel, der er mit seiner linken Hand das Messer an den Hals setzt. In seiner anderen Hand hält er die Beretta.
Geiselnehmer stirbt durch Schüsse des MEK
Provokativ trägt Gonzales die Dienstmütze des getöteten Beamten auf dem Kopf. Doch das wird ihm zum Verhängnis. Als er die Mütze hochwirft, ist er kurz unaufmerksam und abgelenkt. Drei MEK-Beamte kommen aus ihrer Deckung - und erschießen den Geiselnehmer gezielt. Acht Schüsse fallen innerhalb von vier Sekunden. Die Geisel wird verletzt - allerdings durch Gonzales, wie sich später herausstellt.
Erster finaler Rettungsschuss in Deutschland
Dieser Apriltag 1974 verändert die Stadt. In die Hamburger Polizeigeschichte geht er als der Tag ein, an dem erstmals ein Einsatz mit "finalem Rettungsschuss" beendet wird. In der Folge beginnt die juristische Aufarbeitung des Falls - denn ob und wohin geschossen werden darf, ist da noch nicht eindeutig geregelt.
Als erfolgreich gilt der Einsatz mit tödlichem Ende jedenfalls nicht. Nicht nur, dass Martinshörner den Täter unnötig aufgeschreckt hatten. Auch dass die zwei Bereitschaftspolizisten die Bank am frühen Mittag bewaffnet betreten haben, war in diesem Fall keine Ultima Ratio. Zudem war das Leben der Geisel beim Schusswechsel gefährdet. Denn eine Polizei-Kugel hätte auch die Geisel treffen können.
Hamburger Senat übt scharfe Kritik am Polizeieinsatz
Doch Hamburgs damaliger Polizeipräsident Günter Redding betont 1974: "Im Grundsatz war der Einsatz richtig und wir haben an dieser Grundkonzeption keine Fehler zu verbessern." Der Hamburger Senat hingegen übt scharfe Kritik an der Polizei. Das Vorgehen sei im Grundsatz unzulässig und wie eine vorweggenommene Todesstrafe, sagt der damalige Justizsenator Ulrich Klug 1976.
Nach dem Vorfall in Hamburg reformieren die Innenminister von Bund und Ländern das Polizeigesetz. Mittlerweile haben alle Bundesländer eine rechtliche Grundlage für den "finalen Rettungsschuss" in ihr Polizeigesetz aufgenommen.