DDR-Kernkraftwerk Lubmin: Wo die Atomenergie als "sicher" galt
Das Kernkraftwerk "Bruno Leuschner" in Lubmin galt bei Inbetriebnahme am 12. Juli 1974 als hochmoderner DDR-Zukunftsbetrieb. Anders als im Westen hielten die meisten Menschen die Atomenergie damals für sicher.
Am 26. April 1986 explodiert im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl der Reaktor Block 4. Eine radioaktive Wolke zieht über Deutschland hinweg. In der Bundesrepublik wächst die Angst vor Atomenergie. In Gorleben im niedersächsischen Wendland erlebt die Anti-Atomkraft-Bewegung einen nie geahnten Zulauf bei ihren Demonstrationen gegen das dort geplante atomare Endlager.
Keine Zweifel an Kernkraftwerk "Bruno Leuschner" in Lubmin
Zur gleichen Zeit im Nordosten: Im VE Kombinat Kernkraftwerke "Bruno Leuschner" läuft alles wie gewohnt, und zwar seit mehr als zehn Jahren. Bei der Inbetriebnahme am 12. Juli 1974 gilt das Kernkraftwerk als hochmoderner DDR-Zukunftsbetrieb. Das größte AKW der DDR, damals auch eines der größten in Europa, liegt am Rande von Lubmin, einem malerischen Seebad direkt an der Ostsee. Mit dem Greifswalder Bodden steht reichlich Kühlwasser zur Verfügung. Vier Blöcke versorgen das Land von dort aus mit mehr als zehn Prozent des Strombedarfs. 15.000 Menschen arbeiten rund um die Uhr. Das Kernkraftwerk soll ständig erweitert werden.
In der DDR geht niemand gegen Atomkraft auf die Straße
Denn in den 1980er-Jahren steigt der Energiebedarf auch in der DDR rasant. Die Arbeitsplätze in dem Vorzeigebetrieb "Bruno Leuschner" sind begehrt. Die Menschen, die hier arbeiten, empfinden ihren Job als Privileg. Beruf und Privatleben sind dabei oft eng miteinander verknüpft, Brigadefeste und gemeinsame Ausflüge an der Tagesordnung. Alle sind sich sicher, dass die qualifizierten Kollegen alles für die Sicherheit im Betrieb tun würden. Man fühlt sich geborgen in Greifswald und Umgebung. Auch deshalb geht, anders als im Westen, in der DDR niemand auf die Straße, um gegen Atomkraft zu protestieren.
Material auf dem Forschungsstand der 60er-Jahre
Fast alle Bauteile stammen aus der Sowjetunion - entwickelt in den 1960er-Jahren. "Sowohl bei den damaligen russischen Projektanten als auch bei den Einkäufern in der DDR bestand zunächst die Meinung: Man kauft ein Kernkraftwerk ein, das läuft 40 Jahre durch, einmal im Jahr öffnet man das, um den Brennstoff zu wechseln und das ist gut. Dann passiert nichts weiter", erzählt Diplom-Physiker Norbert Meyer in der NDR Fernseh-Dokumentation "Als wir die Kernkraft für sicher hielten".
Prüftechnik ist nicht vorgesehen
Und: Die in dicken Stahlbehältern eingeschweißten Brennelemente, mit denen Lubmin 1974 ans Netz geht, sind ohne Prüftechnik ausgestattet. "Die Zugänglichkeit, um diese Blöcke überhaupt zu prüfen, war gar nicht gegeben", berichtet Meyer. "Das heißt, wir kannten die Anlage ziemlich schlecht."
Schnell tauchen die ersten Probleme auf. Neben der Materialermüdung durch den permanenten Neutronenbeschuss gibt es Rostschäden durch das Kühlwasser. Reparaturen werden nötig. Ein Tag Stillstand bedeutet laut Meyer allerdings eine Million Mark Verlust. Also werden Forschungsstellen an den KKW-Standorten eröffnet, um die Probleme zu beheben.
Wochenend-Stillstand für KKW-Reparaturen
Die daraus resultierenden Reparaturarbeiten selbst dürfen aber nicht sofort durchgeführt werden. Eine staatliche Kommission legt fest, wann ein Block dafür vom Netz genommen werden darf - und wählt dafür in der Regel Wochenenden aus, an denen Industriebetriebe weniger Strom brauchen, wie sich die Diplom-Kristallografin Marlies Philipp erinnert, die ab 1978 als wissenschaftliche Mitarbeiterin zusammen mit Norbert Meyer in der Werkstoffprüfung arbeitet. "Da wurde uns schon bewusst, welchen Anteil wir hier an der Energieversorgung haben", so Philipp.
Die Stasi sitzt im KKW "Bruno Leuschner" mit am Tisch
Die Staatssicherheit gehört zum festen Stamm in Lubmin. In einer Baracke im Wald ist eine eigene Objektdienststelle untergebracht. 25 hauptamtliche und 300 inoffizielle Mitarbeiter sollen für die materielle wie auch die personelle Sicherheit sorgen. "Wobei bei diesem Bauwerk alles sicherheitsrelevant ist", sagt ein ehemaliger Oberleutnant der Stasi, der namentlich nicht genannt werden möchte. Die Mitarbeiter der Objektdienststelle stehen in engem Austausch mit den Technikern und Kernkraftwerkern - spezielle Schulungen sollen die nötigen Fachkenntnisse und Verständnis für die sicherheitsrelevanten Bereiche vermitteln.
"Sicherheit in einigen Situationen nicht zu gewährleisten"
Den Physiker Norbert Meyer - zwar fasziniert von dem kühnen Unterfangen, die Kernenergie zu bändigen - beschleichen irgendwann Zweifel: "Je länger man an dem Objekt arbeitete, merkte man, wie unausgereift die ganze Sache teilweise war." 1984 ergeben Berechnungen erstmals, "dass wir die Sicherheit in einigen Situationen nicht gewährleisten können", so Meyer. Die Technik der 1960er-Jahre stammt aus einer Zeit, in der man atomare Unfälle für sehr unwahrscheinlich hält. Mit der Ummantelung des Brennstoffes und dem sogenannten ersten Kreislauf - er enthält den stählernen Reaktor, in dem die Kernspaltung stattfindet -, gibt es nur zwei Schutzbarrieren. Im Falle einer Havarie laut Meyers Expertise völlig unzureichend: "Wenn Störfälle eingetreten wären, hätten wir damit rechnen müssen, dass das ganze Druckgefäß auseinanderplatzt."
DDR verschweigt die Kernkraft-Risiken
Dass es keine weiteren Sicherheitsbarrieren für austretende Radioaktivität gibt, weiß damals auch die Staatssicherheit. Meyers Forschungsberichte landen regelmäßig in der zuständigen Objektdienststelle - eingestuft als vertrauliche Verschlusssache. Die sogenannte Versprödung des Stahls und damit die Bruchgefahr der Reaktor-Druckgefäße gibt es damals in allen Kernkraftwerken, auch im Westen. In der Bundesrepublik allerdings wird darüber berichtet. In der DDR gilt die Atomkraft weiterhin als unangefochtene Lösung der Energieprobleme. Von dem in Lubmin betriebenen Reaktortyp sind Mitte der 1980er-Jahre rund 50 Stück in Betrieb. Zur Lösung der Technik- und Sicherheitsprobleme fliegen die Verantwortlichen derweil einmal im Jahr zur Beratung nach Moskau.
Meyers Bericht führt zum Reiseverbot
Norbert Meyer ist 1984 Mitglied dieser Runde und hat seinen brisanten Bericht zu den Sicherheitsrisiken im Gepäck. Ob der "schwierigen Sachlage" wird er gebeten, "die Formulierungen weicher zu fassen oder anders zu gestalten". Meyer ist nicht einverstanden. Der Generaldirektor vom KKW Lubmin wird eingeflogen und nimmt Meyer ins Gebet. Der bleibt bei seiner Haltung, Block 3 müsse abgeschaltet werden, solange die Gefahr nicht beseitigt ist. Schon ein 20 Millimeter großes Leck am Reaktor würde zur Katastrophe führen. Der DDR-Minister für Kohle und Energie wie auch der sowjetische Minister für Atomenergie werden eingeschaltet. Das Ergebnis: ein Zusatzprotokoll, laut dem die Wahrscheinlichkeit eines Lecks in der Größe so unwahrscheinlich ist, "dass man damit weiter leben könnte", so Meyers Erinnerung. "Das entsprach keinesfalls der Wahrheit." Meyer bekommt ein Reiseverbot - und einen Vorgesetzten, der fortan als Delegationsleiter die Protokolle verfasst.
DDR-Berichterstattung über Tschernobyl soll beruhigen
Im April 1986 kommt es dann im Atomkraftwerk Tschernobyl zur Katastrophe. Ein Reaktorblock explodiert - der bis dahin größte atomare Unfall der Geschichte. Das DDR-Fernsehen berichtet erst nach Tagen über das Unglück. Man versucht, die Bevölkerung zu beruhigen: "Französische Experten konstatieren, ausgeströmte Radioaktivität war nie eine Gefahr für Europa", heißt es in einer Ausgabe der "Aktuellen Kamera". Ein Unfall mit Ausmaßen wie in Tschnernobyl wird offiziell gemeinhin als "nicht unmöglich" bezeichnet. Fachleute wie Physiker Norbert Meyer haben da andere Kenntnisse. Und die Staatssicherheit kümmert sich derweil um die dennoch wachsende Sorge in der Bevölkerung: Gemeldet werden etwa Aktivitäten der kirchlichen Friedensbewegung, die sich um radioaktiv verseuchte Lebensmittel sorgt.
Ein Atomschutz-Bunker für die Stasi
Auch um die Sicherheit kümmert sich die Stasi nach Tschernobyl in Lubmin: Unter einem Anbau der Objektdienststelle wird im Juni 1986 ein Atomschutz-Bunker für 30 bis 60 Menschen fertiggestellt. Gedacht ist er jedoch nur für die Mitarbeiter der Stasi. Für die Kernkraftwerker gibt es das nicht. Sie haben nicht einmal einen geschützten Kontrollstand, von wo aus sie im Notfall die Reaktoren weiter bedienen können.
Evakuierungspläne für Greifswald zum Scheitern verurteilt
Durchaus gibt es in der DDR Evakuierungspläne für den Fall eines Atomunfalls - allerdings sind sie streng geheim. Und den Verantwortlichen zufolge für Greifswald zum Beispiel gar nicht umsetzbar: Mehr als 100.000 müssten bei einem Lubmin-Unfall in Sicherheit gebracht werden. Die sind aber kaum zu benachrichtigen. Weder stehen ausreichend Lautsprecher-Anlagen noch Telefonanschlüsse zur Verfügung.
Enorme Sicherheitsmängel führen 1990 zur Abschaltung
Ende der 80er-Jahre haben die seit Jahren geplanten großen Sanierungs- und Rekonstruktionsmaßnahmen an den Reaktoren aus den 60er-Jahren noch immer nicht stattgefunden. Es mangelt an Geld und Material. Doch Abschalten kommt für die SED-Parteiführung nicht infrage. Im Wendejahr 1989 nimmt der fünfte Block den Probebetrieb auf, Block 6 befindet sich in der Fertigstellung, zwei weitere sind in Planung.
Nach dem Mauerfall allerdings werden die enormen Sicherheitsmängel des Kernkraftwerks in Lubmin publik. In der Folge lässt lässt der damalige Bundesumweltminster Klaus Töpfer (CDU) 1990 alle Blöcke in Greifswald abschalten. Doch die Meinungen und Empfindungen der Bevölkerung darüber gehen weit auseinander. Viele sehen nach der Wende und auch noch Jahrzehnte später die eigene Lebensleistung infrage gestellt.
Rückbau von "Bruno Leuschner" seit Mitte der 90er-Jahre
Die gesamte Anlage in Lubmin wird 1995 stillgelegt, seitdem wird sie zurückgebaut. Bis 2028 sollen alle Bauten abgerissen werden. Heute gehört das ehemalige VEB-Kernkraftwerk den Entsorgungswerken für Nuklearanlagen (EWN). Die 100-prozentige Tochter des Bundes für den Rückbau verantwortlich und betreibt auch das benachbarte Zwischenlager Nord betreiben.