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Regulativ von 1847: Erste Rechte für Hamburgs Prostituierte

Stand: 12.11.2022 23:59 Uhr

Am 12. November 1847 tritt in der Hamburger Vorstadt St. Pauli eine Verordnung in Kraft, die erstmals die Rechte von Prostituierten gegenüber ihren Bordellwirten festschreibt. Abhängigkeit und Ausbeutung sollen beschränkt werden.

von Dirk Hempel

Prostitution gibt es in Hamburg seit dem Mittelalter. Schon im Stadtrecht von 1292 ist sie erwähnt, über die Jahrhunderte wird sie mehr geduldet als erlaubt. Doch als sich im 17. Jahrhundert die Syphilis in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitet, wird das Gewerbe vehement bekämpft: Prostituierte werden bei Wasser und Brot eingesperrt und im Wiederholungsfall für zehn Jahre aus der Stadt verbannt.

In der Franzosenzeit werden die Bordelle luxuriöser

Verschwunden ist die Prostitution aus der Hafenstadt aber nie. Und als nach der Revolution 1789 zunehmend französische Emigranten an die Elbe kommen - wohlhabend und weniger sittenstreng als die Einwohner der Hansestadt - werden immer mehr Bordelle eröffnet, zum Teil sogar luxuriöse Etablissements, die mit Seidenstoffen und kostbaren Möbeln ausgestattet sind.

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Französische Soldaten auf einer Brücke in Hamburg, Lithographie © picture-alliance / akg-images

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Der Staat reglementiert die Prostitution

Die Polizei überwacht die Prostitution, wenn sie sie schon nicht verhindern kann. Unter der französischen Besatzungsmacht wird 1807 die regelmäßige ärztliche Untersuchung der Frauen auf Geschlechtskrankheiten eingeführt. Seit 1818 müssen sie registriert sein und seit 1834 Abgaben zahlen. In diesem Jahr arbeiten offiziell 621 Prostituierte über die ganze Stadt verteilt. Auf St. Pauli, wo sich schon früh ein Vergnügungsviertel herausgebildet hat, sind es 120 Frauen in 18 Bordellen. Ihre Kunden entstammen überwiegend bürgerlichen Kreisen.

Aber auch am Dammtorwall in der Nähe des Stadttheaters, am Dovenfleet und in den Elendsquartieren der Gängeviertel gibt es viele Bordelle. Die Zahl der nicht registrierten, heimlichen Prostituierten, zu denen auch Kellnerinnen und Dienstmädchen, Arbeiter- und Handwerkertöchter gehören, wird auf das Dreifache geschätzt.

Die Frauen sind den Bordellwirten ausgeliefert

Heinrich Zille (1858-1929): "Der Haussegen oder Die Mantelnäherin während des Konfektionsstreiks", um 1898. (Der Streik der Berliner Konfektionsarbeiterinnen zwingt einige, sich wegen des Verdienstausfalls zu prostituieren). Radierung und Aquatinta, Druck auf Kupfertiefdruckkarton, 9,3 x 14,7 cm (Platte). Inv. I 585 Berlin, Akademie der Künste. © picture alliance / akg-images
Auch Kellnerinnen, Dienstmädchen und Näherinnen müssen sich im 19. Jahrhundert oftmals mit Prostitution heimlich ein Zubrot verdienen.

Rechte haben die Frauen gegenüber den Bordellwirten und nicht selten auch Bordellwirtinnen nicht, sondern sind von ihnen finanziell vollkommen abhängig. Sie müssen ihre Einnahmen für Essen, Wohnung und Heizung abtreten und auch zur Tilgung von Schulden bei den Wirten, die oft bis zu 1.000 Mark betragen - der doppelte Jahreslohn eines Handwerkers.

Denn die Wirte legen die Höhe ihrer monatlichen Auslagen, etwa für Kleider und Toilettenartikel, pauschal fest, willkürlich und ohne Kontrolle. Steigt das Einkommen der Frauen, steigen auch die Forderungen der Wirte. So kommen diese oft zu Wohlstand und sind einigermaßen geachtete Mitglieder der Gesellschaft. Die Frauen aber sind ihnen ausgeliefert, eine Rückkehr in ein Leben jenseits der Prostitution bleibt ihnen weitgehend verwehrt. Die Kosten für den Freikauf durch heiratswillige Männer sind hoch, und auch die Flucht gelingt nur selten.

Die Obrigkeit schreitet ein

Eine Ausgabe von 1960 vom "Regulativ für die Bordell-Wirthe und eingezeichneten Mädchen in der Vorstadt St. Pauli" im Hamburger Staatsarchiv. © NDR Foto: Dirk Hempel
Am 12. November 1847 erlässt der Patron von St. Pauli das "Regulativ für die Bordell-Wirthe und eingezeichneten Mädchen in der Vorstadt St. Pauli" - hier eine Ausgabe von 1860 im Hamburger Staatsarchiv.

Der Staat hat lange Zeit ein Interesse an dieser Abhängigkeit, weil sie den Verbleib der registrierten Frauen im Bordell garantiert und die geheime Prostitution auf den Straßen und in den Tanzlokalen reduziert. Aber mit der steigenden Zahl der Prostituierten im Verlauf des Jahrhunderts scheint die Lage unhaltbar geworden zu sein.

Anders ist es kaum zu erklären, dass der Patron von St. Pauli, der höchste Verwaltungsbeamte der Vorstadt, sich genötigt sieht, am 12. November 1847 eine Direktive zu erlassen, die die Lage der Prostituierten tatsächlich verbessern soll: das "Regulativ für die Bordell-Wirthe und eingezeichneten Mädchen in der Vorstadt St. Pauli". Denn erst wenige Jahre zuvor hatte eine Polizeiverordnung über die Frauen geurteilt, "daß ihr an sich schändliches und verwerfliches Gewerbe nur geduldet, nicht erlaubt, oder gar autorisirt oder gutgeheißen wird."

Erstmals bekommen Hamburgs Prostituierte Rechte

Die neue Regelung, die insgesamt 22 Punkte umfasst, bestimmt nun, dass die Bordellwirte für "Logis, Kost und Mobiliar" nur die Hälfte der Einnahmen berechnen dürfen, "welche die Mädchen an Lohn für den Beischlaf und an Geldgeschenken von den Männern haben". Von der anderen Hälfte sollen weitere Kosten bestritten und außerdem die Schulden abgezahlt werden, die 150 Mark nicht überschreiten dürfen. Jede Frau erhält ein Heft, in dem die Wirte ihre Auslagen fortan detailliert notieren müssen.

Kein "Beischlafe mit einem ihr nicht genehmen Mann"

Eine Ausgabe von 1960 vom "Regulativ für die Bordell-Wirthe und eingezeichneten Mädchen in der Vorstadt St. Pauli" im Hamburger Staatsarchiv. © NDR Foto: Dirk Hempel
Das Regulativ von 1847 soll auch vor Kälte, Gaffern und Anfeindungen schützen: "Den Wirthen ist verboten, die Mädchen vor den offenen Hausthüren sitzen zu lassen."

Die Bordellwirte müssen die Frauen zudem besser behandeln, etwa für "einfaches gutes" Essen und "Morgen-Kaffe" sorgen und im Winter einen Aufenthaltsraum auf eigene Kosten heizen. Einmal in der Woche sollen die Frauen fortan ausgehen dürfen, ohne ihre auffällige Kleidung tragen zu müssen. Außerdem können sie nicht "zu dem Beischlafe mit einem ihr nicht genehmen Mann gezwungen werden."

Diskussionen um Prostitution ...

Ob sich die Situation der Frauen durch diese Verordnung tatsächlich verbessert, ist ungewiss. Ihr Ausgabenheft müssen sie zwar monatlich einem Arzt zur Kontrolle vorlegen, der "jede Regelwidrigkeit" der Patronatsbehörde zu melden hat. Wucherpreise und überzogene Schuldverschreibungen durch die Wirte verfolgt dann die Polizei. Eine anonyme Schrift von 1858 über "Die Hamburger Prostitution" beurteilt die Lage der Frauen allerdings noch immer äußerst kritisch. Doch zumindest wird das Thema im Verlauf des Jahrhunderts zunehmend in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert, etwa von Sozialpolitikern, Ärzten und Feministinnen, aber auch von selbsternannten Moralaposteln und Sittenwächtern.

... und Doppelmoral

Immer wieder wird Prostitution staatlich verfolgt, aber dennoch geduldet. Als 1871 etwa ein Reichsgesetz die Bordelle in Deutschland verbietet, dürfen Prostituierte in Hamburg weiterhin gemeinsam Häuser bewohnen und ihre wirtschaftlichen Interessen von einem Ökonomen wahrnehmen lassen - allerdings nur noch in bestimmten Straßen.

Noch immer ist der Schutz vor Ausbeutung nötig

Heute ist Prostitution in Deutschland schon lange erlaubt, auch wenn sie bis 2002 noch als "sittenwidrig" galt. Immer wieder aber wird sie reglementiert - und es ist offenbar nötig, den Schutz von Frauen in einem Gewerbe mit vielen Grauzonen wieder und wieder in den Fokus zu nehmen. Zuletzt ist 2017 das deutsche Prostituiertenschutzgesetz in Kraft getreten, das die Selbstbestimmung der Frauen stärken und sie gegen Ausbeutung sichern soll - wie schon das Regulativ von 1847.

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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 17.03.2012 | 19:30 Uhr

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