Lost Places: Der Atombunker unter Hamburgs Reeperbahn
Tausende Hamburger nutzen täglich die S-Bahn-Station Reeperbahn. Was kaum einer ahnt: Unter dem 1979 eröffneten Bahnhof befindet sich einer der größten Atombunker der Stadt. 4.500 Menschen sollte er im Ernstfall schützen.
Die meisten Hinweise auf die unterirdische Bunker-Anlage am Hamburger S-Bahnhof Reeperbahn erschließen sich als solche erst auf den zweiten Blick. Die zwei großen Säulen zum Beispiel, die an den Bahnhofseingängen in den Himmel ragen. Journalist und Buchautor Thomas Hirschbiegel weiß: In ihnen befinden sich die alten Lüftungsanlagen des Bunkers. Auf der Suche nach verschollenen Orten streift der Autor, der mit dem Fotografen Florian Quandt das Buch "Lost Places. Verlassene und geheimnisvolle Orte in Hamburg & Umgebung" veröffentlicht hat, oft durch die Stadt. Auch den Bunker unter der Reeperbahn-Station hat er schon ein paar Mal besucht.
Unten in der Bahnhofshalle gibt es einen weiteren Hinweis auf die Schutzräume: Ein unscheinbarer Metallstreifen auf dem Boden markiert dort laut Hirschbiegel eine entscheidende Grenze. Im Katastrophenfall wäre an dieser Stelle eine tonnenschwere hydraulische Bunkertür aus der Decke heruntergelassen worden, erzählt er. Ab diesem Moment sollte es für 14 Tage möglich sein, im Bunker zu überleben. Eine Ebene weiter unten auf dem Bahnsteig sollte geschlafen werden, so der Plan aus den späten 1970er-Jahren - schichtweise und in aufklappbaren Feldbetten. Zudem sollten zwei Züge durch den Tunnel auf die unterirdischen Gleise des Bahnhofs rollen. Ihre Waggons: zusätzliche Aufenthaltsräume für die schutzsuchenden Reeperbahn-Bewohner.
Kalter Krieg: Bunker-Pläne als Folge atomarer Bedrohung
Ein unterirdischer Bahnhof, der sich zugleich in einen Bunker verwandeln kann? Damit steht die S-Bahn-Station Reeperbahn in Hamburg nicht alleine da. Zur Zeit des Kalten Krieges wurden gleich mehrere solcher sogenannten Mehrzweck-Anlagen geplant. Die meisten von ihnen gehen auf das Schutzbaugesetz aus dem Jahr 1962 zurück. Angesichts eines möglichen Atomkriegs regelte es den Bau neuer Schutzbunker und die Modernisierung ehemaliger Weltkriegs-Anlagen.
Während anfänglich vor allem Tiefgaragen von privaten oder öffentlichen Gebäuden um Bunker-Räume erweitert wurden, betreffen die Umrüstungen ab 1975 vermehrt die neuen S-Bahnhöfe Jungfernstieg, Stadthausbrücke und Harburg-Rathaus. Im Jahr 1979 kommt schließlich der Bahnhof Reeperbahn hinzu. Von 1984 bis 1993 folgen die U-Bahnhöfe in Niendorf und Billstedt.
Durch eine Panzertür in den abgesperrten Bunker-Bereich
Den Weg ins Herz des Reeperbahn-Bunkers versperrt eine unscheinbare Tür in der Bahnhofshalle. Thomas Hirschbiegel durfte sie für sein Buch durchschreiten - wie auch ein Team der NDR Nordtour, das vom "Lost Places"-Buch inspiriert im Bunker gedreht hat. Ein paar Meter hinter der Tür stehen die Besucher schließlich vor einer Schleuse mit einer weiteren, aber viel massiveren Panzertür. Dort wachte einst der Bunkerwart. Der sollte im Ernstfall dafür sorgen, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig in den Bunker drängen, so Hirschbiegel. Dafür ist in der Betonwand ein kleines Guckloch aus Panzerglas eingelassen - daneben große Armaturen mit der Aufschrift "Raumunterdruck". Thomas Hirschbiegel hat schon viele verlassene Orte in Hamburg besichtigt, doch die Stimmung in diesem Bunker beschreibt er als besonders morbide und trostlos.
Bunker-Herz mit Tiefbrunnen, Sanitär und Krankenstation
Im Vergleich zu den anderen Bunker-Anlagen in Hamburg stechen die Reeperbahn-Schutzräume mit ihrer besonderen Ausstattung heraus: Zweimal wird die Bunker-Luft früher gefiltert, erst durch einen Vorfilter, danach durch einen Partikelfilter mit Aktivkohle-Füllung - mittlerweile sind die Filteranlagen jedoch defekt. Neben einem großen Notstromaggregat beherbergt die unterirdische Anlage außerdem Waschräume, Duschen, Toiletten, einen Tiefbrunnen und sogar eine ganze Krankenstation. Und auch die psychische Belastung im Falle eines Ernstfalls hatten die Planer bedacht: Statt verschließbarer Türen hängen vor den Kabinen nur Vorhänge. Eine Vorsichtsmaßnahme, um eingreifen zu können, sollte die Verzweiflung nach Tagen der Angst und ohne Sonnenlicht zu groß werden, weiß Hirschbiegel.
Bunker geraten aus dem Visier des Katastrophenschutzes
Mitte der 2000er-Jahre sind die Schrecken des Kalten Krieges verblasst und nicht mehr viele wollen an einen möglichen Atomkrieg glauben. Auch um die meisten unterirdischen Bunker-Anlagen kümmert sich kaum noch jemand, sie verstauben ungenutzt. Schließlich plant sogar das Bundesamt für Katastrophenschutz Notfall-Maßnahmen ohne Schutzräume. Im Jahre 2007 gehen viele Bunker aus dem Bundesbesitz in die Verantwortung der Kommunen über. Doch auch die wissen häufig nichts mit ihnen anzufangen. Was keine Umnutzung als Kultur- oder Geschäftsplatz erfährt, verfällt zusehends.
Der Reeperbahn-Bunker wird zur Abstellfläche
Vor einigen Jahren hat die Stadt Hamburg den Bunker am Reeperbahn-Bahnhof an die Deutschen Bahn übergeben. Doch insgesamt sei sein Zustand zu schlecht, als dass er für die Öffentlichkeit genutzt werden könnte, so eine Bahn-Sprecherin. Notausgänge fehlen und schon längst entspreche auch der Brandschutz nicht mehr den Standards. Aus den ehemaligen Schutzräumen ist inzwischen eine Abstellfläche geworden. Überlegungen, das unterirdische Areal künftig noch einmal anders zu nutzen, gibt es demnach nicht. Als Schutzbunker ist die Anlage jedenfalls nie zum Einsatz gekommen - und wird es wohl auch in Zukunft nicht mehr.