Großer Dreesch in Schwerin: Von der "Perle" zu einem Brennpunkt

Stand: 04.03.2024 00:00 Uhr

Am 11. November 1971 wurde auf dem Großen Dreesch der Grundstein gelegt. Es entstanden Wohnungen für rund 60.000 Menschen. Nach der Wende zogen viele Bewohner weg. Es folgten Leerstand und Verfall. Für die Probleme sollen Lösungen her. Einblick bietet eine NDR Story.

Der Große Dreesch, südwestlich des Schweriner Sees gelegen, gilt als Norddeutschlands größte Plattenbausiedlung. Ab 1971 entstehen auf der grünen Wiese am Stadtrand Wohnungen für insgesamt rund 60.000 Menschen. Per Ministerratsbeschluss soll die verschlafene Residenzstadt Schwerin zu einem Industriestandort in der DDR werden - und endlich im Sozialismus ankommen, so der Wunsch der Oberen. Die Grundsteinlegung erfolgt am 11. November 1971. Die ersten Mieter können bereits im Februar 1972 ihre Wohnungen beziehen. Seitdem befindet sich die Plattenbausiedlung in einem permanentem Wandel.

Moderne Wohnungen mit Warmwasser und Toiletten

Eine junge Familie sieht sich auf einer Baustelle auf dem Großen Dreesch in Schwerin Anfang der 1970er-Jahre um. © Stadtarchiv Schwerin
Vor allem für junge Familie ist der Große Dreesch Anfang der 1970er-Jahre attraktiv.

Zwischen Wald und Wasser wohnt der Arbeiter damals in einer der für damalige Verhältnisse modernen Wohnungen des Typs "Wohnungsbauserie 70". Im Vergleich zu vielen heruntergekommenen Altbauten mit Kohleöfen in der Innenstadt gibt es im Plattenbau endlich warmes Wasser, eine richtige Heizung, eigene Toiletten und sogar Balkone. Die Wohnungen sind beliebt, die Menschen wohnen gern auf dem Dreesch. Mieter Jörg Kuhardt sagt damals über den Einzug mit seiner Familie: "Das ist ein ganz wunderbares Gefühl. Wir freuen uns unheimlich." Es gibt eigene Zimmer für die Kinder und eine große Küche.

Das Ehepaar Heidrun und Wolfram Hendrich kann sich noch gut an das positive Lebensgefühl von damals erinnern. Die Menschen seien gerne auf den Dreesch gezogen, sagen sie in der NDR Story 2024. Heidrun Hendrich ist vor allem eins aus der Anfangszeit im Gedächtnis geblieben: "Die Wärme, die Wärme. Also vorher hatten wir immer in Wohnungen gewohnt, wo es kalt war. Also auch in der Kindheit. Und es war immer kalt. Man hat immer gefroren und... Und auf dem Dreesch hat man überhaupt nicht mehr gefroren."

Auch Andy Hömke, der 1978 auf den Großen Dreesch gezogen ist, blickt in der ARD-Doku "Soziale Brennpunkte - arm und abgehängt für immer?" von 2024 zurück: "Es war ein sehr gefragtes Neubaugebiet hier." Die Bewohner stammten damals aus allen gesellschaftlichen Schichten, es habe keine Unterschiede gegeben. "Es war ein sehr familiäres, angenehmes Zusammensein", erinnert sich Hömke.

Arbeit, Schule, Einkauf

Arbeiten geht man im gerade erbauten Industriekomplex Schwerin-Süd - und stellt Lederwaren, Plastmaschinen und Hydraulikanlagen her. 1975 wird das Verlags- und Druckereigebäude der "Schweriner Volkszeitung" auf dem Dreesch fertiggestellt. Auch in einem sogenannten Projektierungsgebäude mit Versorgungseinrichtungen finden mehrere Hundert Menschen Arbeit. Außerdem entstehen fünf Schulen, zwei Kaufhallen, eine Tankstelle, eine Poliklinik sowie eine Schwimmhalle. Die Bauarbeiten ziehen sich über Jahre hin. Am 5. Oktober 1983 schließlich wird der gesamte Baukomplex seiner Bestimmung übergeben.

Leerstand nach der Wende

1988 lebt gut jeder Zweite der seinerzeit 120.000 Einwohner Schwerins auf dem Dreesch. Noch 1989 ist er der größte Stadtteil. Nach der Wende ziehen viele Menschen weg. Die Wohnungsgesellschaften haben Altschulden aus DDR-Zeiten. Es fehlt Geld für Renovierungen. Das Areal um den Plattenbaukomplex, das nun in die Ortsteile Großer Dreesch, Neu Zippendorf und Mueßer Holz (früher: Dreesch I, II und III) unterteilt ist, leidet unter wachsendem Wohnungsleerstand - wie viele große Plattenbausiedlungen im Osten Deutschlands. Hinzu kommt, dass die Geburtenrate in der ehemaligen DDR deutlich zurückgeht. Die Einwohnerzahl aller drei Ortsteile sinkt bis auf 20.000 bis 25.000.

"Viele fühlten sich allein gelassen"

Alltagsszenerie im Schweriner Plattenbauviertel auf dem Großen Dreesch © NDR.de Foto: Henning Strüber
Verwahrlosung und Verfall: Nach der Wende wendet sich auch die Situation auf dem Dreesch.

Zurück bleiben zumeist jene, die den Anschluss an die neue Zeit verpasst haben. Viele verlieren als gut ausgebildete Fachkräfte ihren einst sicheren Arbeitsplatz. Für die Mehrheit der Menschen kommt der wirtschaftliche Zusammenbruch überraschend. Das soziale Gefüge zerbricht. Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung machen sich breit. Zuwächse verzeichnen lediglich Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität. Die sozialistische Bilderbuch-Siedlung von einst wird zu einem sozialen Brennpunkt. Verfall und Verwahrlosung werden zum Dauerthema in der Berichterstattung. Jugendbanden sorgen für Schrecken.

Mieter Andy Hömke erinnert sich in der ARD-Doku: "Viele fühlten sich allein gelassen. Da war auch eine Wut in den Leuten, auch unter den jungen Leuten." Die Kriminalität sei gestiegen, so seien zum Beispiel Autos geknackt worden. "Es war damals eine sehr traurige Situation" - auch weil etwa Einrichtungen für Kinder damals verfallen und später abgerissen werden.

"Es tut mir immer weh, weil ich ja auch hier wohne. Ich fühle mich dadurch runtergeschoben und das finde ich ungerecht", schildert Heidrun Hendrich ihre Gefühle in der NDR Story. Der Dreesch habe zwar Probleme, aber er spiele in ihrem Leben eine große Rolle.

2020: Soziale Entmischung nirgends größer als in Schwerin

Anlässlich der Grundsteinlegung 1971 wird 50 Jahre später ein Gedenkstein enthüllt, der an den historischen Städtebau erinnern soll. Oberbürgermeister Rico Badenschier (SPD) sagt dabei, dass die Entwicklung der vergangenen 50 Jahre zweigeteilt sei: erst das Wachstum, dann der Niedergang. In den Plattenbausiedlungen leben viele Menschen mit eher niedrigem Einkommen. Im Stadtteil Mueßer Holz beziehen rund 45 Prozent der Menschen Bürgergeld. 51 Prozent der Kinder, die dort leben, sind von Armut betroffen (Stand: 2024).

2020 Jahr kommt eine Studie im Auftrag des Infrastrukturministeriums zu dem Schluss, dass die Einwohner Schwerins bundesweit am stärksten nach Einkommen und sozialem Status getrennt voneinander leben. Der Fachbegriff heißt Segregation. Er bezeichnet die räumliche Abgrenzung und Aufteilung sozialer Gruppen. Experten zufolge ist es für Kinder besonders herausfordernd, in einem Stadtteil aufzuwachsen, wo es wenig soziale Durchmischung gibt. Denn es fehlen andere Vorbilder. Laut der Studie müssten auch deutlich mehr innerstädtische Sozialwohnungen gebaut werden. Unattraktive Viertel müssten zum Beispiel durch eine bessere Infrastruktur und bessere Schulen aufgewertet werden.

Integration ist ein Problem

Problematisch stellen sich auch die Folgen des Zuzugs Geflüchteter dar. Seit 2015/16 sind Menschen verschiedenster Nationen in leer stehende Wohnungen gezogen. Oberbürgermeister Badenschier sagt 2024, dass diese Mischung auch eine Herausforderung für die Bewohner sei, weil "die Menschen, die es eh schon ein bisschen schwerer haben als andere, dann auch noch die Last der Integrationsleistung für unsere Gesellschaft tragen". Badenschier pädiert für eine bessere Verteilung. Und: "Die Leistung der Integration muss von allen Teilen der Bevölkerung, auch von den Wohlhabenden, geschafft werden."

Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung erleben viele Geflüchtete, wie einige in der NDR Story schildern. Das schürt auch Ängste. In einigen Wahlbezirken erreicht die AfD mehr als 50 Prozent. Warum? Viele Menschen hoffen auf Veränderung. Paradox: Sie wollen dennoch nicht, dass die AfD an die Macht kommt, ist in der Doku zu hören.

Der Dreesch soll wieder lebenswerter werden

Schwerin, 10.03.2023: Training mit Jugendlichen und Kindern des Jugendprojekts „ "Boxen statt Gewalt" vom Boxclub Traktor Schwerin mit Jugendtrainer Dieter Berg in der städtischen Sporthalle Hegelstraße im Stadtteil Großer Dreesch. © picture alliance / Foto: Norbert Schmidt |
Das Projekt "Boxen statt Gewalt" soll der Integration dienen.

Seit einigen Jahren versucht die Stadt, die negative Entwicklung auf dem Dreesch zu stoppen und den Trend sogar umzukehren. So sollen etwa die Agentur für Arbeit und das Regionale Berufliche Bildungszentrum für Gesundheit und Sozialwesen die Stadtteile neu beleben. Stück für Stück werden alte Blöcke saniert, leer stehende Gebäude abgerissen. Auf den entstehenden Flächen soll teilweise neuer und attraktiverer Wohnraum gebaut werden.

Darüber hinaus sollen der sozialen Zusammenhalt und das Miteinander im Quartier wieder gestärkt werden. Für die Plattenbausiedlung gibt es ein eigenes Quartiersmanagement. Ein Ziel sei Imageaufwertung und den Leuten ein gutes Lebensgefühl zu geben, sagt Stadtteilmanagerin Anne-Katrin Schulz.

Das kulturelle Angebot soll insgesamt größer werden. 2020 wird beispielsweise eine Ausstellung im Fernsehturm mit Stücken der Bewohner organisiert, 2023 findet eine Rollschuh-Disco statt. Außerdem will das Jugendprojekt "Boxen statt Gewalt" im Mueßer Holz Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen von der Straße holen und ihnen eine regelmäßige Beschäftigung bieten. Sozialarbeiter Frank Brauns sagt: "Wir wollen Alltagsnormen vermitteln wie Pünktlichkeit, Respekt voreinander, Fairness. Das sind die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens." Es gebe Grundregeln, die schon immer funktioniert hätten. "Und die dürfen nicht weiter verschütt gehen, um auch weiterhin vernünftig zusammenzuleben."

Wandel ist große Herausforderung

Die alte Plattenbausiedlung lebenswerter zu machen, sei die Herausforderung für die kommenden 25 Jahre, so Badenschier bereits 2021. Laut Kriminalstatistik sind die Straftaten auf dem Dreesch bei den unter 21-Jährigen in den vergangenen zehn Jahren zwar gesunken, Gewalt, Diebstahl, Raub, Alkohol- und Drogenmissbrauch sind aber weiter ein großes Thema. Messerstechereien, Prügeleien und Brandstiftungen kämen häufig vor, so Bewohner.

Die Stadt versucht, auf die Situation zu reagieren - mit verschiedenen Maßnahmen. So wird zum Beispiel 2023 ein Rehazentrum für Suchtkranke im Stadtteil Muesser Holz eröffnet.

Positive Wahrnehmung auch musikalisch angestrebt

Die Rostocker Band Feine Sahne Fischfilet hat ein Musikvideo auf dem Dreesch gedreht. "Kiddies im Block" von 2023 ist dort entstanden. In dem Song geht es um das Aufwachsen in der Hochhaussiedlung. Die Band thematisiert die Probleme des Viertels ("Hier ändert sich nichts, Hoffnung zerbricht"). Sie versucht auf diesem Weg, den Finger die Wunde zu legen und gleichzeitig, für mehr Aufmerksamkeit zu werben. Das Lied sei rau und deshalb habe auch das Video rau sein müssen, so die Band in einer NDR Story von 2024.

Seit dem Videodreh ist die Band mit dem Dreesch verbunden. Sänger Jan Gorkow, genannt "Monchi", und Schlagzeuger Olaf Ney wollen dabei helfen, die Hochhaussiedlung ein Stück weit zu verändern. Sie finden, es sei damals keine gute Idee gewesen, so zu bauen. Wenn eine soziale, kulturelle Mischung fehle "und man abgehängt ist oder sich abgehängt fühlt, dann wird das scheinbar auch ein Ort, an dem man sich sehr unwohl fühlt oder denkt: 'Okay, es ist doch sowieso allen Leuten scheißegal, ich mach jetzt hier, mach jetzt was ich will. So, ich hab ja eh keine Zukunft. Wie soll ich den hier noch rauskommen?'", so Ney.

Die Botschaft des Songs ist auch: Man soll nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern nicht aufgeben, "auch wenn die Verhältnisse vielleicht manchmal nicht berauschend sind, sondern scheiße", erklärt "Monchi" im NDR.

Weitere Informationen
Ein Neubau. © Screenshot
1 Min

Schwerin: Zweitgrößtes Rehazentrum für Suchtkranke eröffnet

Im Stadtteil Muesser Holz ist das Rehazentrum für Suchtkranke eröffnet worden. In 72 Einzelzimmer können Betroffene aufgenommen werden. 1 Min

Menschen auf Rollschuhen. © Screenshot
3 Min

Rollschuh-Disco: Party auf dem Schweriner Dreesch

Mitten im sozialen Brennpunkt kommen Menschen zum Rollschuhfahren zusammen und bauen so vielleicht auch Vorurteile ab. 3 Min

Chantal und Julia © NDR Foto: Screenshot

Wie Jugendliche mit Armut groß werden

Kein Geld haben. Was bedeutet das für Heranwachsende und ihre Entwicklung? Panorama 3 trifft einige Kinder aus Schwerin Dreesch nach drei Jahren wieder. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Story | 04.03.2024 | 22:00 Uhr

Mehr Geschichte

Zerstörtes Haus in Kampen auf Sylt nach dem Orkan "Anatol" am 4. Dezember 1999. ©  picture-alliance / dpa Foto: Wulf Pfeiffer

Vor 25 Jahren: Orkan "Anatol" verwüstet Teile Norddeutschlands

"Anatol" löste vom 3. auf den 4. Dezember 1999 eine schwere Sturmflut aus und erreichte Windstärke zwölf. Die Schäden gingen in die Millionen. mehr

Norddeutsche Geschichte