Wie Jugendliche mit Armut groß werden
Peinlich sah sie früher aus, findet Chantal. Ungeschminkt. Heute gefalle sie sich besser: Das Gesicht sorgfältig gepudert, die Lippen mit hellem Gloss gezogen, die Wimpern schwarz getuscht. Im Jahr 2014 treffen wir sie und ihre Freundin Julia das erste Mal im Haus der Begegnung in Schwerin. Damals sind sie noch Kinder, Julia zehn, Chantal elf Jahre alt. Jeden Tag kommen sie dorthin, zum Mittagessen. Das kostet sie nur 30 Cent, den Rest bezahlen Spender.
Der Treffpunkt für Kinder liegt mitten im Wohngebiet Großer Dreesch, das Zentrum bildet ein Penny-Markt, darum herum reihen sich in die Jahre gekommene Plattenbauten aneinander. Der Stolz der 70er-Jahre-Bauwerke - heute ist er abgebröckelt und von Moos überzogen. Jedes zweite Kind gilt hier als arm und hängt von Hartz IV Leistungen ab.
Alte Freundschaften, neue Treffpunkte
Drei Jahre später schauen sich beide Mädchen den Bericht von damals noch einmal an. Julia blickt wehmütig auf die Zeit zurück "das war so schön damals, man hat sich immer getroffen, saß jeden Tag zusammen", sagt sie. Heute ist sie 13 Jahre alt, wohnt bei ihrer alleinerziehenden Mutter.
Noch immer treffen sich die beiden Mädchen fast jeden Tag, gehen zusammen nach der Schule regelmäßig in die Jugendeinrichtungen. Doch ihre Orte sind andere geworden. Im Haus der Begegnung seien "nur Kleinkinder" findet die 14-jährige Chantal. Stattdessen gehen die beiden auf den Bauspielplatz oder wie heute ins Deja Vu, einen Jugendclub nur wenige hundert Meter von ihrem alten Treffpunkt entfernt.
Kostenlose Angebote für Kinder und Jugendliche
Heute steht hier Kekse backen auf dem Programm. Zusammen mit einem Sozialarbeiter und einer Erzieherin stehen sechs Kinder um den großen Tisch, kneten Teig und stechen Sterne und Monde aus. Im Hintergrund spielen andere Kinder Billard und Tischtennis oder sitzen auf der Couch und hören Musik vom Handy.
Die Angebote sind für die Kinder kostenlos "das ist wichtig, denn viele Kinder hier haben nicht viel Geld, die wollen wir nicht verschrecken", sagt Erzieherin Rebecca Kirsch. Nicht viel Geld zu haben, für viele Kinder hier ist das normal. Früher hätte sie das mehr gestört, sagt Julia: "Wenn man klein ist, dann will man die gleichen Spielsachen haben, die andere Kinder haben".
Das Wichtigste: Kleiderschrank und Handy
Jeden Monat bringt Julia die Pfandflaschen zurück, etwa zehn Euro bekommt sie dafür. Das ist ihr Taschengeld. "Aber ich komme damit aus", sagt sie, meistens spare sie das Geld sogar. Teures Spielzeug, das brauche sie heute nicht mehr. "Für mich ist das Wichtigste ein Kleiderschrank, ein Spiegel und ein Handy", sagt sie. Das Telefon sei unverzichtbar: Darüber chatten die Jugendlichen mit ihren Freunden, hören Musik, spielen Handyspiele oder schauen sich Internetvideos ihrer Idole an.
Beide Mädchen haben konkrete Wünsche für die Zukunft. Chantal möchte Erzieherin werden "nicht wie einige aus meiner Klasse, die sagen sie wollen Hartz IV werden wie ihre Eltern". Den ganzen Tag rumzusitzen, das könne sie sich nicht vorstellen. Einfach einen normalen Job, sodass man davon leben könne, das wäre schön. Julia geht auf die Realschule und hofft bald auf das Gymnasium zu wechseln. Mit ihrem Notenschnitt von 1,7 hat sie gute Chancen. Abitur machen, Studieren - "das ist mein Lebensziel", sagt sie.