Grindelbergbahn: Hamburgs vergessene Radrenngeschichte
Von 1885 bis 1906 zogen Radrennen auf einem Velodrom in der Nähe der heutigen U-Bahnstation Hoheluftbrücke Zehntausende in den Bann. Der Historiker Lars Amenda hat nun ein Buch über die Grindelbergbahn geschrieben.
Bevor Fahrräder aussahen, wie wir sie heute kennen, sind die Menschen auf Hochrädern gefahren: Gefährte mit einem kleinen Hinter- und einem großen Vorderrad, an dessen Achse die Pedale angebracht sind. Die Erfindung aus dem vorvergangenen Jahrhundert mit hohem Nostalgie-Faktor hat von heute aus betrachtet etwas Drolliges - gehörte damals aber zum exklusiven Vergnügen einer Elite.
Hochräder: Teure Rennmaschinen für die bürgerliche Elite
Der Historiker Lars Amenda, ein versierter Kenner der Fahrradgeschichte, erzählt: "Wenn man heute auf Oldtimer-Veranstaltungen ein Hochrad sieht, sitzt darauf ein Herr mit Zylinder, der in Schrittgeschwindigkeit vorbeifährt." Was viele nicht wissen: Ende des 19. Jahrhunderts waren Hochräder teure Rennmaschinen, die sich nur eine bürgerliche Elite leisten konnte. "Ein Hochrad war so teuer wie heute ein gehobener Mittelklassewagen, der ungefähre Jahresverdienst eines Arbeiters also", erklärt der Historiker.
In einer Zeit, in der sich der Individualverkehr noch hauptsächlich auf die eigenen Füße oder den Transport mit Pferden beschränkte, galten Geschwindigkeiten von deutlich über 30 km/h als spektakulär - und die konnten die Hochräder durchaus erreichen. Ihre Handhabung war allerdings nicht ungefährlich: Das Auf- und Absteigen erforderte einiges an Können, die Fallhöhe war im wahrsten Sinne des Wortes beachtlich.
Die Fahrradstadt als Zukunftsvision
In Altona und Hamburg gab es Ende des 19. Jahrhunderts nicht viele Hochradfahrer, die aber waren von der neuen Technik absolut überzeugt. Sie organisierten sich in Vereinen wie dem Altonaer Bicycle-Club von 1869/80, dem Hamburger Bicycle-Club von 1882 und dem Cyclisten-Club Hammonia - und brachten sogar Theaterstücke zum Thema auf die Bühne. "Dort wurde das Fahrrad im 20. Jahrhundert gezeigt, also eine Zukunftsvision vorweggenommen, in der alle Menschen radfahren: Bäcker, Postboten und so weiter", erzählt Amenda.
Bei den Vereinen handelte es sich um reine Männerbünde mit Vertretern aus bürgerlichen Berufen: Braumeister und Weinhändler waren dabei, aber auch Menschen wie William Wilkens, der 1876 in Hamburg die erste deutsche Werbeagentur gegründet hat. "Die Sportvereine dienten dem beruflichen Fortkommen, also dem Netzwerken, und es wurde auch gerne dem Alkohol zugesprochen", sagt Amenda. Frauen blieb allein schon deshalb der Zutritt verwehrt, weil es für sie Ende des 19. Jahrhunderts absolut verpönt war, auf Hochrädern durch die Gegend zu fahren.
Grindelbergbahn als Bühne für den Radsport
Das Sendungsbewusstsein der bürgerlichen Radfahr-Enthusiasten in Hamburg ging noch deutlich über Veranstaltungen wie Theaterstücke hinaus: Nach dem Vorbild anderer deutscher Städte wie München, Berlin und Bremen sollte auch in der Hansestadt eine Rennbahn entstehen, die dem neuartigen Sport als Bühne dienen sollte. Dazu schlossen sich die drei erwähnten Vereine im April 1885 zum Renn-Verein Hamburg-Altonaer Radfahrer zusammen und planten den Bau eines Velodroms.
Als Ort wurde ein von der Stadt gepachtetes Gelände zwischen der Straße Grindelberg und dem Isebekkanal, nahe der heutigen U-Bahnstation Hoheluft, auserkoren. Finanziert wurde das Projekt zum Teil mit Anleihen, zum Teil aus dem Vermögen des Renn-Vereins. Innerhalb weniger Monate entstand auf dem weitläufigen Areal eine ovale Anlage mit 500 Meter langer Radrennbahn, einem Richterstand in der Mitte und einer Holztribüne mit Sitzplätzen für 1.000 Personen zusätzlich zu den vielen Stehmöglichkeiten.
Lars Amenda: Hamburgs Radsport-Geschichte im Buch
In seinem Buch "Grindelbergbahn: Radsport und Gesellschaft in Hamburg 1885-1906" über diese Episode in der Hamburger Sportgeschichte zeichnet Lars Amenda auch ein Bild der Menschen, die sich in diesen Jahren auf der Bahn tummelten.
Für den Historiker war es ein Riesenglück, dass neben schriftlichen Quellen wie Programmheften auch ein umfangreicher Bestand an Fotos erhalten geblieben ist: Der Fahrrad-Unternehmer Robert Wiesenhavern war begeisterter Amateurfotograf und dokumentierte das Geschehen auf der Grindelbergbahn von Anfang an. Eine Auswahl aus seinem bis vor Kurzem unbekannten Foto-Nachlass illustriert nun Amendas Buch und zeigt einen Ort in Hamburg, der schon lange in Vergessenheit geraten war.
Eröffnung mit Fahrrad-Korso nach Blankenese
Die feierliche Eröffnung der Grindelbergbahn fand am 26. Juli 1885 statt. Die Radsport-Freunde starteten den Tag mit einem Korso nach Blankenese und zurück, dann hatten die Teilnehmer laut Programmheft das Vergnügen einer "dreimaligen Umfahrt" der neuen Bahn. Schließlich folgten mehrere Rennen.
Erste Rennradfahrer wollten keine Profis sein
Das Hauptrennen am Eröffnungstag ging über 20 Runden und damit über insgesamt 10.000 Meter. Die Sieger und Platzierten erhielten Sachpreise wie eine goldene Savonet-Remontoir-Uhr im Wert von 200 Mark für den ersten oder ein silbernes Zigarettenetui im Wert von 100 Mark für den dritten Platz. "Die Fahrer hatten alle gut dotierte bürgerliche Berufe und unter ihnen war es verpönt, um Geldpreise zu fahren", so Amenda.
Die Altonaer und Hamburger Rennradfahrer unterlagen an diesem Tag übrigens der Konkurrenz von außerhalb. Das Hauptrennen gewann, zum Bedauern vieler Zuschauer, Albert Rissmann aus Hannover. Die Dominanz der auswärtigen Fahrer bei den großen Rennen sollte noch für einige Jahre anhalten, doch ab den 1890er-Jahren fuhren auch Athleten wie die Brüder August und Hugo Underborg vom Hamburger Bicycle-Club am Grindelberg Siege ein und wurden zu umjubelten Lokalmatadoren.
Sensationeller Zuspruch für das Velodrom am Grindelberg
Die Rennbahn stellte sich schnell als Publikumsmagnet heraus. "Am Anfang herrschte absolute Aufbruchstimmung, in den ersten Jahren gab es sensationellen Zuspruch", so Amenda. "Dreimal im Jahr, im Frühjahr, Herbst und Sommer, gab es große Rennen - ein Rhythmus, der sich am Pferdesport orientierte. Bei diesen Veranstaltungen kamen bis zu 15.000 Leute in das Velodrom, das ist das geschätzte Fassungsvermögen." Während bei den großen Rennen die heimischen Fahrer gegen die nationale und internationale Konkurrenz antraten, gab es auch kleinere Rennen auf regionaler Ebene.
Das Publikum war fasziniert von der Geschwindigkeit und von der neuartigen Technik des Radfahrens. Gleichzeitig war die Grindelbergbahn nicht nur eine Bühne für den neuen Sport, sondern auch für die Zuschauenden selbst: Ähnlich wie wie bei den Pferderennen, die nach britischen Vorbild in dieser Zeit auch in Hamburg üblich wurden, ging es für das bürgerliche Publikum ums Sehen und Gesehenwerden. Die Bahn, schrieben die "Hamburger Nachrichten" am Tag der Eröffnung, "bot mit den zahlreichen Zelten, dem vielköpfigen Publikum und der auf der Tribüne bemerkbaren, eleganten Toiletten der Damen- und Herrenwelt einen bunt belebten Eindruck dar."
Großer Preis von Hamburg: Neue Räder, neues Publikum
Eines der spekulärsten Rennen auf der Bahn war der Große Preis von Hamburg im August 1897. Mittlerweile hatte das Radfahren immer größere Kreise erreicht, zu sehen sowohl im Straßenbild wie auch im Publikum. Nicht wenige der Zuschauer radelten in ihrer Freizeit oder auf dem Weg zur Arbeit selbst - und gehörten eben nicht mehr nur dem gehobenen Bürgertum an.
Auch die Technik hatte sich im Laufe der 1890er-Jahre deutlich weiter entwickelt: Statt auf Hochrädern fuhren die Fahrer beim Großen Preis von Hamburg auf Niederrädern, womit ihre Velos bereits die Form heutiger Fahrräder bekommen hatten. Die neuartige Technik - Kraftübertragung durch Fahrradkette statt Pedalen an der Achse, Luft- statt Vollgummireifen - hatte die Räder noch schneller gemacht.
Frühe Sport-Presse: Radrennen sorgen für Auflage
Ausgerufen hatte den Großen Preis von Hamburg die "Neue Hamburger Zeitung". Schon einige Jahre zuvor hatten französische Blätter damit begonnen, Radfahr-Wettbewerbe ins Leben zu rufen, um Auflage zu machen und Geld für Werbung einzunehmen. Und so war die Sondernummer der "Neuen Hamburger Zeitung" vom 14. August 1897 ist nicht nur mit umfangreichen Artikeln zum großen Rennen gefüllt, sondern auch mit Annoncen von Fahrrad- und Reifenherstellern.
Werben ließ sich auch mit den Fahrern der großen Rennen, von denen die meisten mittlerweile ins Profilager gewechselt waren. Der Große Preis von Hamburg lockte mit seinen hohen Preisgeldern von insgesamt 6.000 Mark in verschiedenen Kategorien Fahrer aus dem In- und Ausland an. Die Presse hatte diese Sportler zu Stars gemacht, die gut von ihren Einnahmen leben und sich ganz aufs Radfahren konzentrieren konnten. Jugendliche fieberten bei den Rennen mit und hängten sich Bilder ihrer Favoriten an die Wand - übrigens lange bevor ähnliche Persönlichkeiten im Fußball auftauchten, der damals noch kein Publikumsmagnet war.
Kopf-an-Kopf-Rennen mit Nationalgefühl
Beim Entscheidungsrennen am 15. August 1897 war die Anlage am Grindelberg vollgepackt mit Menschen - ein sportliches Großereignis für damalige Verhältnisse, so Amenda. Am Start waren unter anderem der Frankfurter August Lehr (Weltmeister von 1894), der Publikumsliebling Willy Arend aus Hannover sowie der hoch gehandelte Paul Bourillon aus Paris.
"Der Entscheidungslauf wurde über die ganze letzte Runde im Spurt, der sich auf der Graden zu einem mörderischen Endgefecht zuspitzte, gefahren", schrieb die "Neue Hamburger Zeitung" danach martialisch über das 2.000-Meter-Rennen. Am Ende überquerten Arend und Bourillon für viele Beobachter gleichzeitig als Erste die Ziellinie. Der Zielrichter erklärte jedoch Arend zum Sieger - was für Jubelstürme im Publikum und vergebliche Proteste der Franzosen sorgte. Unter den Klängen der deutschen Nationalhymne fuhr der Sieger die Bahn ab, danach intonierte die Kapelle die Marseillaise. Zwar starteten die Fahrer damals nur für sich und nicht für ihr Land. Doch das Spielen der Hymnen verdeutlicht, dass internationale Sportveranstaltungen schon damals nicht ohne Nationalstolz gefeiert wurden.
Wildwest-Shows sollen Einnahmen sichern
Zwar kam der Große Preis von Hamburg gut beim Publikum an und wurde in den folgenden Jahren wiederholt, doch wegen der hohen Kosten war es nicht einfach, die dem Wetter ausgesetzte Bahn zu betreiben. Nicht alle Radrennen zogen viele Zuschauer an - und so suchten die Betreiber nach weiteren Einnahmequellen. Zu den skurrilsten Episoden in dieser Hinsicht dürften die gut besuchten Wildwest-Shows gehört haben, die ab Mitte der 1890er-Jahre im Innenraum der Bahn über die Bühne gingen.
Steherrennen mit Motorrädern: Es "faucht, pufft, knallt"
Für richtig viel Geschwindigkeit auf der Rennbahn und Nervenkitzel im Publikum sorgten ab 1898 die Motor-Steherrennen. Bei ihnen wurden die ersten Motorräder als Schrittmachermaschinen eingesetzt, hinter denen die Rennradfahrer im Windschatten fuhren. Bis dahin hatten Tandems diese Aufgabe übernommen.
Wie fasziniert das Publikum von den neuartigen Maschinen gewesen sein muss, zeigt ein Text aus dem "Sport-Album der Rad-Welt" von 1903: "Da kommen die Ungethüme, jedes von anderer Gestalt, jedes auch andersartigen Lärm machend. Der eine Motor knarrt, knattert, rasselt. Der Andere faucht, pufft, knallt. Der Dritte stöhnt, heult, kreischt."
Motorrad-Unfall wirft Schatten auf die Grindelbergbahn
Unterschätzt wurde übrigens die Gefahr, die von den Motorrädern ausging. An den Steilkurven, an dessen Rändern Zuschauer standen, gab es laut Amenda lange Zeit keine stabilen Barrieren. 1904 kam es bei einem Steherrennen zur Katastrophe: Eine Maschine raste mit hoher Geschwindigkeit aus der Kurve ins Publikum. Dabei wurde ein 15-jähriges Mädchen so schwer verletzt, dass ihr ein Bein amputiert werden musste. "Das Rennen ist nicht abgebrochen worden", erzählt Amenda. "Ein Krankenwagen mit zwei Pferden hielt direkt neben der Bahn und die Tiere mussten von zig Leuten festgehalten werden, weil dort alle 30 Sekunden die Motorräder lang donnerten." Die Presse berichtete ausführlich über den desaströsen Umgang der Veranstalter mit dem Unfall. "Das war ein Menetekel, dass die Zukunft der Bahn nicht besonders leuchtend war", so Amenda.
Mit dem Aus der Grindelbergbahn endet 1906 eine Ära
Nicht nur das Negativimage nach dem Unfall machte der Bahn zu schaffen, zunehmend kamen auch finanzielle Sorgen dazu. Das Interesse an den Rennen, das durch die motorisierten Schrittmachermaschinen zunächst wieder gestiegen war, ließ nach. "Es hing auch sehr stark davon ab, welche Stars bei den Radrennen an den Start gingen", sagt Amenda. "Die anderen Veranstaltungen brachten auch nicht genug Geld ein. Und irgendwann war die Luft raus."
Der Sportbetrieb auf der Grindelbergbahn endete 1906. Im Jahr darauf löste sich der Betreiberverein auf. "Damit ist die Stätte dann Geschichte, sie wurde abgetragen und das Gelände mit Wohngebäuden überbaut", so Amenda. Hamburg wuchs in dieser Zeit stark - und die Stadt schluckte das Areal, das sich heute in zentraler Lage befindet. In unmittelbarer Nähe wurde 1912 die Hochbahn-Haltestelle Hoheluftbrücke eröffnet.
Erst 1961 bekommt Hamburg ein neues Velodrom
"Die Rennen auf der Grindelbergbahn blieben zwar für ein paar Jahrzehnte in Erinnerung als die große Zeit des Radsports, aber das verblasste irgendwann im Lauf des 20. Jahrhunderts", erklärt Amenda. Erst 1961 sollte Hamburg mit der Radrennbahn in Stellingen wieder ein bedeutendes Velodrom erhalten. In der Zwischenzeit waren andere Sportarten wie Fußball aber deutlich populärer geworden: "Diese riesige Begeisterung, die die Grindelbergbahn bei den Menschen ausgelöst hatte, sollte sich nicht mehr einstellen."