Die Suche nach dem Lewitz-Dorf Banzkow
Bei den Großeltern findet Emma Bliemel das Buch "Platekatelbanzkosumirade" - ein sozialistisches Kinderbuch, gut 50 Jahre alt. Die 20-Jährige erkennt viel aus ihrem Dorf wieder, vieles aber ist ihr fremd. Eine Spurensuche beginnt.
Banzkow. Mein Dorf. Hier bin ich aufgewachsen. Meine Familie lebt hier, meine Eltern, Großeltern, Onkel, Cousins. Ich bin Emma, bin 20 Jahre alt. Und bei meinen Großeltern hab ich ein Kinderbuch gefunden. "Platekatelbanzkosumirade" von Erich Köhler. Das Buch ist vor so ziemlich genau 50 Jahren erschienen und spielt genau hier - in Banzkow. Darin sucht Roswitha - ein Kind im Vorschulalter - eine Stecknadel, die sie verloren hat.
"Großvater, wie ist das, wenn man eine Stecknadel verliert? Großvater steht wie vom Blitz getroffen da. Denn leiht sei dor, wo sei henfollen is… Und wenn sie nun ins Heu gefallen ist? Na, denn leiht sei wenigstens weik. Wann aber die Kuh sie frisst? Denn möt de Melker bi´t Melken Obacht gäben, dat hei sik nich inne Hand stecken deit." Aus dem Buch "Platekatelbanzkosumirade"
Auf der Suche nach der Stecknadel helfen Roswitha die Schwalben. Sie zwitschern den Namen der Gegend hier, der auch der Titel des Buches ist: "Platekatel-Banzkosumirade" - eine Zusammensetzung aus den Namen der Dörfer hier in der Lewitz.
"Wir Schwalben mögen am liebsten Laute, die quietschen, rietschen, zischen, rätschen, quarren, knarren, schnarren und sperren, wie: Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft oder Abschnittsbevollmächtigter." Aus dem Buch "Platekatelbanzkosumirade"
Bei den Großeltern beginnt die Suche
In meinem Banzkow gab es zwar auch Schwalben, aber keine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft mehr und keinen Abschnittbevollmächtigten. Ein Lehrlingswohnheim? Gibt’s nicht mehr. Jugendbrigaden auch nicht. Zuerst besuche ich meine Großeltern. Die haben damals zwar in Schwerin gewohnt, waren aber in jeder freien Minute im Dorf, um in der Wirtschaft zu helfen. In der DDR durfte jeder im Dorf eine kleine Wirtschaft nebenbei betreiben - neben dem Beruf, das war die sogenannte "individuelle Bauernwirtschaft". Viele haben das genutzt, Schweine gemästet, Tabak angebaut und getrocknet, Heu gemacht, Obst und Gemüse angebaut und verkauft.
Meine Großeltern haben ihr ganzes Berufsleben lang gelernt - mein Opa hat sich vom Traktoristen über ein Meisterstudium bis zum Ingenieur hochgearbeitet. Meine Oma war Sekretärin, später hat sie die ersten Computer der DDR bedient. Von Oma bekomme ich einen Tipp: Im Buch hat die kleine Heldin Hilfe, unter anderem von der Vorsitzenden der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, der LPG. Und für die LPG-Vorsitzende im Buch hatte Autor Erich Köhler ein Vorbild in Banzkow: die damals jüngste LPG-Vorsitzende der DDR, Solveig Leo. Ich darf sie besuchen in ihrem Flachdachhaus.
LPG: Verbesserungen vor allem für die Frauen
Mit gerade einmal 24 Jahren wurde Solveig Leo zur jüngsten LPG-Vorsitzenden der DDR. Hier, in meiner Heimat. In meinem Kinderbuch legt ihr der Schriftsteller Erich Köhler diese Worte in den Mund:
"Die Leitung einer Produktionsgenossenschaft sieht ganz anders aus, als ich mir’s vorgestellt hatte. Von Acker, Wald und Wiese, von der natürlichen Produktion bin ich weit entfernt. Das tun die Feldbrigaden und Spezialisten mit ihren Maschinensystemen. Mir bleiben nur die Besprechungen, Sitzungen, Konferenzen, die Tabellen und Zahlen. Statt Blumen sehe ich Heu, statt Heu Planziffern, welche die sogenannte tierische Erzeugung bedeuten." Aus dem Buch "Platekatelbanzkosumirade"
In den 70ern standen hier 30.000 Rinder in den Ställen in der Lewitz. Ihr Futter wuchs auf 10.000 Hektar Wiesen und Weiden. Die Lewitz war Rinderaufzuchtgebiet. So hieß das damals. Die LPG war eigentlich das Wichtigste im Dorf, erzählt Solveig Leo. Hier hatten die Leute Arbeit, geregelt im Sommer wie im Winter, mit Urlaub und Lohn. Die LPG hat die ersten richtigen Straßen angelegt, hat Kulturveranstaltungen organisiert und die Kinderkrippe in Banzkow gebaut. "Es war ein gemeinsames Wirtschaften. Es war für die Frauen in erster Linie 'ne Erleichterung, denn die Frau hat in der privaten Landwirtschaft den größten Teil der schweren Arbeit gehabt. Also ich hab ja auch mit vielen Bauern engen Kontakt gehabt. Also ich kann mich nicht erinnern, dass da mal jemand gesagt hat: So ein Mist, dass die LPG kam. Also im Gegenteil."
Später sehe ich Solveig Leo noch einmal ganz anders: Im Archiv des DDR-Fernsehens finde ich einen Beitrag, in dem sie ausgezeichnet wird als "Held der Arbeit". Solveig Leo ist aber nicht nur von der DDR mit einer der höchsten Auszeichnungen geehrt worden. Sie war von 1992 an Bürgermeisterin in Banzkow - 17 Jahre lang - und für ihre ehrenamtliche Arbeit für das Dorf bekam sie das Bundesverdienstkreuz.
Was macht ein Schriftsteller ausgerechnet in Banzkow?
In Neubrandenburg treffe ich den Literaturwissenschaftler Prof. Carsten Gansel. Er erzählt mir vom "Bitterfelder Weg". Ab dem Ende der 1960er-Jahre, so erklärt es Carsten Gansel, sollten Künstler in die Betriebe oder in die LPG gehen und dort bei der Arbeit die Wirklichkeit kennenlernen. Arbeiter und Bauern wiederum sollten selbst Kunst machen - malen, schreiben. "Greif zur Feder, Kumpel" war einer der Sprüche dieser Zeit. "Erich Köhler hat, das muss um 1960 gewesen sein, da hat er gesagt, in etwa: Ich gehe meinen Weg: Und der stimmt zwar im Prinzip, sagt Köhler, mit dem von Bitterfeld überein. Aber, sagt Köhler, ich habe ihn mir selbst ausgesucht, und ich bin meilenweit voraus."
Der Schriftsteller hat, so steht es auf einer Gedenk-Internetseite für ihn, die Honorare aus seinen Büchern an die Betriebe abgeführt, in denen er angestellt war, und das freiwillig und aus Prinzip. Angestellt war er mal in einer LPG, später aber auch im Kraftwerk in Lübbenau im Spreewald. Gelebt hat Erich Köhler stattdessen von einem normalen Arbeitergehalt. Carsten Gansel sagt, dass die DDR eben auch ein Staat war, in dem auch Leute, denen die Bildung nicht in die Wiege gelegt war, neue Wege einschlagen konnten. Erich Köhler war so einer. Aufgewachsen in armen Verhältnissen, dann in der DDR: Ausbildung, Studium. "Brechung des Bildungsprivilegs" nennt es der Literaturwissenschaftler. "Das meint ja nichts anderes, als dass Leute, die früher keine Chance gehabt hätten, Abitur zu machen oder sich zu bilden oder Schriftsteller zu werden, dass die die Chance bekommen haben. Erich Köhler war ja auch auf dem Literatur-Institut."
Mit Zwang in die LPG
In meinem Kinderbuch klingt alles sehr idyllisch: Da sind tüchtige Melker, tatkräftige Jugendbrigaden, ein freundlicher, hilfsbereiter Polizist, und sie alle arbeiten im Dorf zum Wohle des Volkes - mit der und für die LPG. Doch schon mein Opa hat erzählt, dass in den 1950er-Jahren diejenigen, die nicht mitmachen wollten, unter Druck gesetzt wurden, bestimmte Dinge nicht mehr kaufen konnten, oder öffentlich an den Pranger gestellt wurden.
Das sagt auch Dr. Michael Heinz. Er ist Historiker in der Stasi-Unterlagenbehörde in Rostock und hat zur DDR-Landwirtschaft geforscht. "1952/53 hat die SED die Kollektivierung politisch stark forciert. Das heißt man hat sehr viel Druck ausgeübt auf die Einzelbauern LPGs zu bilden, insbesondere auf die Altbauern, die nicht bestrebt waren ihre gutlaufenden Wirtschaften aufzugeben." In meinem Kinderbuch ist davon keine Rede. Von den Alten im Dorf schreibt Erich Köhler:
"Sie nahmen an der neuesten Entwicklung ihrer Heimat großen Anteil. Jeder Baum hat für sie Bedeutung. Die alten Menschen sind wie ihre Häuser, diese einstöckigen, hochgiebeligen, breitbrüstigen, rohrgedeckten niederdeutschen Langhäuser. … Diese Alten prüfen und wägen alles ganz genau. An allen Beschlüssen, die das Dorf angehen, sind sie beteiligt. Nichts kann ohne ihr Urteil geschehen." Aus dem Buch "Platekatelbanzkosumirade"
Die Lewitz, so erklärt mir Michael Heinz, war schon ein besonderer Landstrich in der DDR, "... weil sie dann hauptsächlich ab den 1970er-Jahren dazu da sein sollte, Futterproduktion zu leisten für industrielle Tierhaltungsanlagen, die man dann auch in der Region errichtet hat. Es gab ein Kombinat Industrielle Mast, auch in Banzkow, und dafür muss dann natürlich Futter produziert werden, und entsprechende Mittel sind auch dorthin geflossen."
Die Stecknadel ist gefunden - zumindest in der Literatur
Am Ende des Kinderbuches findet die kleine Heldin mit der Hilfe der Dorfbewohner ihre Stecknadel. Auf ihrer Suche hat sie viel über den sozialistischen Alltag gelernt, so wie ihn der Schriftsteller Erich Köhler gesehen hat. Und in der damals noch verfallenen Mühle lernt das Mädchen viel über den Lauf der Gestirne und will schließlich selbst einmal Vorsitzende einer LPG werden.
Kurz nachdem das Kinderbuch erschienen ist, 1973, restauriert die LPG tatsächlich die alte Banzkower Windmühle und macht sie zu einem Vorzeigerestaurant. Zwei Millionen Mark, so erzählen die Banzkower, soll das gekostet haben. Aus der ganzen Gegend kamen dann die Leute dort hin - man musste lange im Voraus reservieren, erzählen meine Großeltern. Auch das Fernsehen war öfter da.
Auch ich beende meine Suche hier an der Mühle. Jetzt, kurz bevor ich für ein Studium erstmal das Dorf verlasse, hab ich es doch noch einmal ganz anders kennen gelernt. Und mit ihm ganz "Platekatelbanzkosumirade", denn der Buch-Titel, der steht für die Namen der Lewitzdörfer, so wie die Schwalben sie zwitschern, wenn sie rasend schnell über die Landschaft sausen: Plate, Pekatel, Banzkow, Sukow, Mirow und Consrade.