Stand: 10.08.2019 06:00 Uhr

Die "Holtenauer" in Kiel: Wie sich eine Straße verändert

Bilder von früher im Vergleich mit Fotos von heute - möglichst aufgenommen von derselben Position: Das ist das zentrale Element der Serie "Schleswig-Holstein früher und heute". So wollen wir den Wandel der Städte im nördlichsten Bundesland dokumentieren. Ein interaktiver Foto-Vergleich macht das besonders deutlich.

von Sebastian Parzanny

Flaniermeile, Einkaufsboulevard und "Bummelkiez" - die Holtenauer Straße ist eine der bekanntesten Straßen Kiels. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg gingen die Kieler hier einkaufen, sie trafen sich zum Essen und Bier trinken. Dann wurden viele Häuser zerstört. Seit der Nachkriegszeit hat eine Kieler Familie eine besondere Beziehung zu "ihrer Holtenauer". "Ich erinnere mich, dass ich dort irgendwo als Kind bei einem Richtfest dabei war. Das war nach dem Krieg beim Wiederaufbau. Damals wurden Richtfeste noch richtig groß mit Marschmusik gefeiert", sagt Thomas Kersig. Er steht auf dem überdachten Teil der Holtenauer Straße, den sogenannten "Arkaden".

Die Holtenauer Straße nördlich der Arkaden. © NDR Die Holtenauer Straße nördlich der Arkaden. © NDR Foto: Sebastian Parzanny

In den 1930er-Jahren wurde in der Holtenauer Straße 74 in einer Kneipe (l. im Bild) noch Bier getrunken, heute werden hier Turnschuhe verkauft. Im Hintergrund zu sehen: die Kieler Straßenbahn, ihr Betrieb wurde 1985 eingestellt. Durch die Holtenauer Straße fuhrt zum Beispiel die Linie 4, die hier direkt am "Wikinger" vorbeirauscht.

Viele Häuser und Läden in Familienbesitz

Der 76-Jährige zeigt auf Wohnhäuser, die einige Hundert Meter entfernt zu erkennen sind. Auf den breiten Gehwegen links und rechts der Straße sind viele Passanten unterwegs, vor den Cafés sitzen Menschen in der Sonne, es herrscht reges Treiben auf der "Holtenauer". Viele der Läden und Wohnungen gehören dem Familienunternehmen Kersig oder werden von der Firma verwaltet. Den Großteil der Geschäfte hat Thomas Kersig an seinen Sohn Phillip und seinen Neffen Jan Christoph Kersig abgeben. Doch die beiden vermieten nicht nur: Sie haben einen Verein gegründet, in dem sich die Geschäftsleute zusammentun, um unter anderem lange Einkaufsabende zu veranstalten.

Einkaufsstraße seit dem vorletzten Jahrhundert

Alte Schwarz-Weiß-Bilder und Dokumente aus dem Kieler Stadtarchiv zeigen: Schon vor dem Krieg gab es zahlreiche Geschäfte und Gewerbebetriebe. Kurz nach 1900 wurde ein erstes Kino eröffnet, damals eine Sensation. Neun Jahre später folgte das Kaufhaus Kröhnke und Lau in der Holtenauer Straße 140. Dort ist es noch heute. Besonders die bessere Gesellschaft der Stadt, zum Beispiel Offiziere, Beamte und Professoren der nahe gelegenen Universität, flanierten hier gern. Genau wie heute galt damals bei vielen das Motto das Motto "sehen und gesehen werden".

Die Arkaden am Dreiecksplatz. © NDR Die Arkaden am Dreiecksplatz. © NDR Foto: Sebastian Parzanny

1952 war der Wiederaufbau der Holtenauer Straße schon teilweise abgeschlossen. Dort, wo heute die Arkaden sind, gab es schon in der Nachkriegszeit wieder Geschäfte. Damals wie heute sind die Wohnblocks dahinter ein beliebtes Wohnquartier.

Zerstörte Straße als Chance gesehen

Dann begann der Zweite Weltkrieg und die Holtenauer Straße wurde schwer getroffen. "Insbesondere im Bereich der unteren Straße blieb kein Stein auf dem anderen", sagt Johannes Rosenplänter vom Kieler Stadtarchiv. Wie viele der Häuser genau in der Straße zerstört wurden, kann der Historiker nicht sagen. Im gesamten Stadtteil waren es zwischen 50 und 80 Prozent. "Mein Großvater hat in der Zerstörung eine Chance gesehen", sagt Jan Christoph Kersig "denn es war ja Platz und man konnte neu denken“.

Das Ziel von Hans Kersig war eine Straße zum Bummeln mit neuen Häusern und breiten Bürgersteigen auf denen sich die Menschen wohlfühlen konnten. "Die Gehwege hat er übrigens privat gezahlt", schmunzelt Jan Christoph Kersig.

Die Arkaden am Dreiecksplatz. © NDR Die Arkaden am Dreiecksplatz. © NDR Foto: Sebastian Parzanny

Auch 1977 fuhr die Straßenbahnlinie 4 noch durchs Bild. Die nach dem Krieg entstanden Wohn- und Geschäftsblöcke (hinten links im Bild) wurden damals von den Kielern leicht verächtlich als "Klagemauer" bezeichnet. Heute florieren hier die Geschäfte - unter anderem, weil das der Teil der Straße ist, in dem Passanten überdacht shoppen können.

Neue Pläne für die Holtenauer

Nach dem Krieg glaubten längst nicht alle Kieler an Hans Kersigs Vision. Als er anfing, hieß es immer, die Stadt Kiel werde sich nie wieder über die Altstadt hinaus entwickeln, so Jan Christoph Kersig. Die Kieler waren skeptisch, was die neuen Pläne für die Holtenauer angingen. "Er war sich aber sicher, dass die Stadt wieder wachsen wird." Trotzdem hatte sein Großvater harte Jahre. "Er liebte zwar 'seine' Straße, hatte viel in sie investiert, trotzdem war er unsicher. Das kostete ihn einige schlaflose Nächte", erzählt Jan Christoph Kersig weiter.

"Klagemauer" - so nannten viele Kieler die lang gezogenen Geschäftshäuser mit hinterer Wohnbebauung, als der Bereich der unteren Holtenauer schließlich fertig war. "Wie genau der Name entstanden ist, weiß ich nicht", sagt Jan Christoph Kersig. "Ich vermute die Kieler dachten, die Investoren gehen eh bald pleite und werden dann verklagt."

Das Merkurhaus in der Holtenauerstraße. © NDR Foto: Archiv Das Merkurhaus in der Holtenauerstraße. © NDR Foto: Sebastian Parzanny

Den Eingang zur Holtenauer Straße bildete schon 1967 das "Merkurhaus" am Dreiecksplatz. Damals war dort ein modernes Kaufhaus, heute teilen sich mehrere Geschäfte, Restaurants und Büros die große Fläche.

Konkurrenz durch die Holstenstraße

Allem Spot vieler Bürger entgegen entwickelte sich die Holtenauer zunächst wieder gut. Viele Geschäfte, Kneipen und Betriebe siedelten sich an. Aber kurz vor Weihnachten 1953 bekam die "Meile" dann Konkurrenz: Die Holstenstraße in der Kieler Innenstadt wurde für den Verkehr gesperrt und zu einer der ersten Fußgängerzonen Deutschlands umgebaut. "Zunächst hatte die Holtenauer vom Wiederaufbau stark profitiert. Eine Konkurrenz zur Holstenstraße gab es dann aber in jedem Fall - auch, weil zwei große Kaufhäuser in der Innenstadt gebaut wurden", sagt Johannes Rosenplänter vom Kieler Stadtarchiv.

Wieder viel Kritik für eine Kersig-Idee

In den 80er-Jahren hatte Thomas Kersig dann eine zündende Idee. Angespornt durch eine überdachte Ladenzeile. die er in Toronto in Kanada gesehen hatte. Auch dort regnete es häufig, genau wie im Norden Deutschlands. "Da war mir schnell klar: So etwas brauchen wir auch in der Holtenauer", erinnert er sich. Erneut gab's viele Kritiker für eine Kersig-Idee - auch aus dem Rathaus. "Das ist Schwachsinn", war damals die erste Reaktion aus der Verwaltungsbehörde. "Aber wir geben nicht so schnell auf", sagt der 76-jährige mit einem Grinsen. Ausdauer war aber gefragt. Es dauerte schließlich mehrere Jahre, die Stadtväter zu überzeugen. Gebaut wurde die Überdachung dann aber in nur rund drei Monaten.

Viele Veranstaltungen in der "Holte"

Heute zweifelt kaum noch jemand an der Idee. Während in der Kieler Innenstadt vieles leer steht, ist die Nachfrage nach Ladenflächen unter den Arkaden und drumherum groß. Viele Kieler ziehen eine Runde über die "Holte" einem Innenstadtbummel vor. Das hat sicher auch mit den vielen Veranstaltungen zu tun: Die White-Night, der Kehraus-Markt oder lange Shopping-Abende. "Fast alle Kaufleute ziehen hier an einem Strang. Das funktioniert nur so gut, weil nahezu alle Geschäfte inhabergeführt sind", sagt Jan Christoph Kersig, der nun ein wenig nachdenklich wirkt. "Mein Opa hing damals schon sehr an seiner Holtenauer Straße. Er hatte auch immer sein Büro hier, wo wir heute noch unseres haben. Ich glaube, er wäre ganz schön stolz, wenn er sehen könnte, wie es hier heute ist."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 09.08.2019 | 21:20 Uhr

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