Familienszene auf einem Stein in Adlershorst 1943. © Privatbesitz J. Gauck Foto: privat

Joachim Gauck: Vom Ostsee-Kind zum Bundespräsidenten

Stand: 23.01.2025 11:00 Uhr

Private und politische Ereignisse haben den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck geprägt. Ein Streifzug durch seine Kindheit und Jugend, die Zeit der Friedlichen Revolution und die Nachwendezeit.

von Judith Greitsch

Joachim Gauck erlebt eine Kindheit an der Ostsee: Geboren am 24. Januar 1940 in Rostock, wächst er in Wustrow auf der Halbinsel Fischland auf. Als Baby schreit der kleine Joachim viel, ist ständig hungrig und ein richtiger kleiner Nimmersatt, berichten Mutter und Geschwister. Bald wird sein Vater, der Kapitän ist, zur Kriegsmarine eingezogen.

Oma Antonie wohnt nur wenige Minuten entfernt in ihrem reetgedeckten Haus am Deich, ganz nah am Strand. Die Familie wird nach Kriegsende enteignet. Das Haus ist erst seit den 90er-Jahren wieder im Besitz der Familie Gauck. Joachim Gaucks Schwester vermietet darin bis heute Ferienwohnungen, auch Mitglieder der Familie selbst machen hier Urlaub.

Schwere Zeiten ohne Vater

Nach dem Krieg kommt Gaucks Vater aus britischer Gefangenschaft zurück. Für einige Jahre kehrt so etwas wie Normalität ein, die Familie zieht nach Rostock, der Vater arbeitet im Seehafen. Doch dann wird Joachims Vater 1951 ohne Vorwarnung aufgrund falscher Spionage-Anschuldigungen abgeholt und nach Sibirien verschleppt. Eine Katastrophe - auch für die Mutter und ihre mittlerweile vier Kinder. Sie sind angewiesen auf Sozialunterstützung der Stadt, auch Verwandte und Freunde greifen ihnen unter die Arme. Die Mutter wird immer verzweifelter, Joachim hilft, wo er kann.

Freiheit wird zum zentralen Wert

Allen in der Familie ist klar, ein System, in dem ein Mensch einfach verschleppt werden kann, ist in keinster Weise unterstützungswürdig. In seinem Erinnerungen-Buch "Winter im Sommer - Frühling im Herbst", erschienen 2009 im Siedler Verlag, schreibt Gauck dazu: "Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule … 'Wenn euch jemand fragt, wann ihr in die Pioniere eintretet', schärfte Mutter uns Kindern wiederholt ein, 'dann antwortet ihr: Ihr könnt nachfragen, wenn wir wissen, wo unser Vater ist und wann er wiederkommt.'"

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Joachim Gauck begrüßt die Einwohner Rostocks. © dpa-Bildfunk Foto: Jens Büttner
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Festakt in der Marienkirche

Joachim Gauck ist in Rostock mit der Ehrenbürger-Würde der Stadt ausgezeichnet worden. 87 Min

Alle Bemühungen der Mutter bei den Behörden, ihren Mann nach Hause zu holen, schlagen fehl. Am Ende führt eine Initiative Konrad Adenauers in Moskau zur Freilassung Tausender Gefangener, Gaucks Vater ist einer davon. Er kommt zurück nach Rostock, gezeichnet vom Arbeitslager. Für Joachim Gauck wird Freiheit zum zentralen Wert seines Lebens.

Der Pastor und Familienvater Gauck

Joachim Gauck kommt aus dem Hinterausgang eines alten Pfarrhauses. © Privatbesitz J. Gauck Foto: privat
Ein Jahr lang ist Gauck Pastorenlehrling in Laage bei Rostock. Hier kommt er aus dem Hinterausgang des alten Pfarrhauses.

In der Schulzeit zeigt Joachim Gauck sich aufmüpfig. Nie gehört er der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und den Jungen Pionieren an, noch dazu gilt sein Vater weiter als Regimegegner. Joachims Studientraum Germanistik bleibt ihm verwehrt. Der Ausweg ist das Studium der Theologie, er betrachtet sie "als einen Zweig der Philosophie". Aus seinem Plan B macht Gauck eine ganze Menge: Nach dem Vikariat in Laage wird er evangelisch-lutherischer Pastor in Lüssow. 1970 traut ihm die Kirche zu, im Neubaugebiet Evershagen eine eigene Gemeinde aufzubauen.

Pfarrer Gauck erreicht die Menschen

Der damalige Pastor Joachim Gauck sitzt rechts neben einer Schülerin © NDR
Die junge Gemeinde um Pfarrer Gauck im Neubauviertel Evershagen trifft sich häufig in privater Umgebung.

Joachim Gaucks Art auf die Menschen und vor allem auch auf Jugendliche zuzugehen, kommt an. Rasch wird die Gemeinde größer, er wird als Rostocks Stadtjugendpfarrer berufen und leitet ab 1982 auch die Kirchentagsarbeit in Mecklenburg. Auf dem legendären Evangelischen Kirchentag 1988 in Rostock gelingt es ihm und seinen Mitstreitern, Altbundeskanzler Helmut Schmidt als Redner zu verpflichten. Das Erlebnis bewegt Gauck bis heute, in der Rede zu Ehren von Schmidt zu dessen 95. Geburtstag erzählt er davon im Schloss Bellevue.

Als die Söhne ausreisen wollen

Urkunde zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. © Privatbesitz J. Gauck Foto: privat
Ein bewegendes Dokument für die Familie: Die Urkunde vom 8. Dezember 1987 zur Entlassung Martin Gaucks aus der Staatsbürgerschaft der DDR.

Für Gaucks Kinder ist es nicht immer einfach mit einem charismatischen Vater, der Ansprechpartner für eine ganze Gemeinde, ja eine ganze Stadt ist. Gauck ist immer viel unterwegs. In seinen Erinnerungen schreibt er, wie ihn sein Sohn Christian einmal hart angeht: "Für andere setzt du dich ein! Für deine eigenen Söhne nicht!", sagt er zu ihm. In der Tat hängt der Haussegen mehr als schief, als die Söhne Martin und Christian 1984 ihre Ausreise in die Bundesrepublik beantragen. In der DDR dürfen die beiden Pastorensöhne ihre Berufswünsche nicht verwirklichen - ein Zustand, den sie nicht aushalten.

Mutter Hansi versteht den Ausreisewunsch, Gauck ist dagegen. Er hat in den 50er-Jahren erlebt, wie innerhalb kurzer Zeit viele Freunde und etliche andere kluge und gut ausgebildete Menschen die DDR Richtung Westen verließen. Gaucks Credo: Der richtige Weg sei es, in der DDR zu bleiben und sich zu engagieren, um Dinge zu verändern. Als der Tag der Ausreise 1987 für die Söhne kommt und die Eltern sie zum Zug bringen, fällt Mutter Hansi der Abschied sehr schwer. Als sie weint, bleibt Gauck ohne Tränen und ist deutlich distanziert - "Wein doch nicht", sagt er zu ihr, der Abschied sei doch ein ganz normaler Prozess.

Jahre später analysiert Gauck in einer Therapie sein unterkühltes Verhalten damals. Auch das Schreiben seines Buches hilft ihm, die Zeit aufzuarbeiten. Später sagt er, er sei von diesem "alten Konzept der Männlichkeit", dass Starksein nur ohne Tränen ginge, geheilt.

1989 - Die Ereignisse überschlagen sich

Joachim Gauck  steht im Herbst 1989 in der Marienkirche in Rostock vor einem Mikrofon und hält eine Rede. © picture alliance / dpa Foto: Siegfried Wittenburg
Im Herbst 1989 strömen bis zu 5.000 Menschen in die Rostocker Marienkirche und beschwören mit Gauck die Freiheit.

Zwei Jahre später, im Juni 1989, verlässt auch Gaucks älteste Tochter Gesine der Liebe wegen die DDR, nicht ahnend, dass nur wenige Monate später die Grenze Geschichte sein würde. Gesines Vater wird derweil zu einer zentralen Figur des friedlichen Umbruchs in der DDR: Er engagiert sich in der Bürgerbewegung Neues Forum, ruft zur Freiheit in der Rostocker Marienkirche auf. Im Anschluss an die Gottesdienste ziehen Zigtausend Menschen durch die Rostocker Innenstadt, demonstrieren für einen demokratischen Wandel. 1990 wird Gauck Abgeordneter von Bündnis 90 in der ersten frei gewählten - und letzten - Volkskammer der DDR.

Der Neue Markt in Rostock bei Nacht © NDR
AUDIO: Joachim Gauck appelliert 1989 an Demonstranten (6 Min)

Als "jemanden gaucken" zum festen Begriff wurde

Joachim Gauck und Bundesinnenminister Rudolf Seiters (l.) im Stasi-Archiv in Berlin im Jahr 1992. © picture-alliance / ZB Foto: Andreas Altwein
In Gaucks Amtszeit haben bei der Stasi-Unterlagen-Behörde mehr als 1,7 Millionen Menschen einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. (Links im Bild der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters.)

Zu DDR-Zeiten hat die Staatssicherheit Joachim Gauck im Visier und versucht ihn auch als Informanten zu gewinnen, was nicht gelingt. Schwierige Zeiten brechen für Gauck und seine Familie mit seinem ersten Job nach der Wende an: Im Oktober 1990 wird er "Sonderbeauftragter für die personenbezogenen Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR". Über 2.700 Mitarbeiter werten zu dieser Zeit die Akten in der Bundesbehörde - der "Gauck-Behörde" - aus und ermöglichen Menschen, in ihre Akten zu schauen.

Drohungen an der Tagesordnung

Zehn Jahre lang bleibt Gauck Herr über Millionen von Stasi-Akten. Vor allem zu Beginn bekommt er harschen Gegenwind von all jenen, die alten Kadern nahegestanden hatten oder befürchten, dass sie als Inoffizielle Mitarbeiter in den Akten kenntlich sind. In einem ihrer seltenen Interviews berichtet Hansi Gauck dem Magazin "Bunte", wie sie zu Anfang jener Zeit in ständiger Angst um ihren Mann lebte. Zu Hause in Rostock hatte die Familie eine Fangschaltung, weil ständig Drohanrufe kamen. Einmal klingelte sogar ein bewaffneter Mann und wollte zu Joachim Gauck.

Entfremdung von der Familie

1991 trennt sich Gauck von seiner Frau, geschieden ist das Paar nicht. Eine Scheidung sei zwischen ihr und ihrem Mann kein Thema, sagt sie. Sie ist für die vier Kinder, zwölf Enkel- und vier Urenkelkinder da und engagiert sich aktiv ehrenamtlich im Café Marientreff, gleich neben der Rostocker Marienkirche.

Neue Lebenspartnerinnen begleiten ihn

Nachdem Gauck einige Jahre mit der Journalistin Helga Hirsch verbrachte, lebt er seit dem Jahr 2000 mit Daniela Schadt zusammen. Die ehemalige Ressortleiterin Innenpolitik bei der "Nürnberger Zeitung" füllt später an Gaucks Seite zur Zeit seines Bundespräsidentenamts die Rolle der First Lady aus. Zu wichtigen Anlässen, wie im August 2013 zur Beerdigung von Gaucks Bruder Eckart, sind alle gemeinsam da, man geht sich nicht aus dem Weg.

Unterwegs in Sachen Demokratie und Freiheit

Als ersten Gast begrüßt Joachim Gauck in der neuen nach ihm benannten ARD-Talkshow am 10.1.2001 in Köln Bundesaußenminister Joschka Fischer. © picture-alliance / dpa Foto: WDR Hajo Hohl
Von Januar bis Dezember 2001 gibt es alle 14 Tage die Sendung "Gauck trifft..." im WDR Fernsehen. (Hier am 10.01.2001 mit Gast Joschka Fischer).

Nach Ausflügen in den Journalismus als Moderator der WDR-Sendung "Gauck trifft …" und etlichen Vorträgen über Freiheit und Demokratie überall in Deutschland übernimmt Gauck 2003 für fast zehn Jahre den Vorsitz des Vereins "Gegen Vergessen - Für Demokratie". Der Verein will die Erinnerung an Diktaturen wachhalten und Extremismus bekämpfen, eine Herzensangelegenheit, wie Gauck sagt.

Der Ostseejunge wird Staatsoberhaupt

2010 wartet die nächste Herausforderung auf ihn: SPD und Grüne stellen Joachim Gauck als Präsidentschaftskandidaten gegen Christian Wulff auf, den CDU/CSU und FDP favorisieren. Landauf, landab gilt der parteilose Gauck schnell als "Präsident der Herzen", doch gegen die Stimmenmehrheit der Konservativen verliert er trotzdem. Nach der glücklosen kurzen Amtszeit von Wulff 2012 dann die zweite Chance: Diesmal wird Gauck mit Unterstützung von Union, SPD, Grünen und FDP in das höchste Amt im Staat gewählt und ist Deutschlands elfter Bundespräsident. Vonseiten der Linkspartei wird er weder bei seiner ersten noch bei der zweiten Kandidatur unterstützt.

"Ihr habt keinen Heiligen als Bundespräsidenten"

Gleich zu Beginn seiner Amtszeit stellt Gauck klar: "Ihr habt keinen Heilsbringer oder keinen Heiligen oder keinen Engel, ihr habt einen Menschen aus der Mitte der Bevölkerung als Bundespräsidenten." Regelmäßig versucht er, das Thema Menschenrechte in den Mittelpunkt zu stellen. Am 31. Januar 2014 zeigt er sich auf der Münchener Sicherheitskonferenz streitbar. Deutschland dürfe sich nicht wegducken, auch nicht mit Hinweis auf die Nazi-Vergangenheit: "Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein", so die Position des damaligen Bundespräsidenten, der stets betont hat, sich nicht in die exekutive Politik einmischen zu wollen.

Joachim Gauck nimmt nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 18. März 2012 Blumen und Glückwünsche entgegen. © picture alliance / dpa Foto: Hannibal
AUDIO: Joachim Gauck: Vom Pastor und Friedensprediger zum Präsidenten (15 Min)

Mit seiner persönlichen Meinung allerdings hält er nicht hinter dem Berg. So sagt Gauck auch seinen Besuch bei den Olympischen Winterspielen im russischen Sotschi ab. Das wird als Kritik an der russischen Menschenrechtspolitik interpretiert. In der Flüchtlingsfrage spricht er angesichts fremdenfeindlicher Gewalt von "Dunkeldeutschland", warnt 2015 am Tag der Deutschen Einheit aber auch vor naivem Optimismus: "Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich."

Im Juni 2016 verkündet Gauck seinen Verzicht auf eine zweite Amtszeit als Bundespräsident. Damit endet seine Präsidentschaft am 18. März 2017. Seine Abschiedsreise im höchsten Amt führt Gauck auch nach Mecklenburg-Vorpommern.

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Joachim Gauck nimmt nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 18. März 2012 Blumen und Glückwünsche entgegen. © picture alliance / dpa Foto: Hannibal

Joachim Gauck: Ein Bundespräsident, der sich einmischte

Als erster Ostdeutscher wurde der frühere DDR-Bürgerrechtler zum Staatsoberhaupt gewählt. Geboren wurde er am 24. Januar 1940. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 23.01.2020 | 09:00 Uhr

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