Stand: 08.10.2019 12:12 Uhr

Die Soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann

von Simone Rastelli, NDR.de
Niklas Luhmann © Prof. Dr. Detlef Horster Foto: Prof. Dr. Detlef Horster
Niklas Luhmann 1997 in seinem Arbeitszimmer der Universität Bielefeld.

Mit seiner Systemtheorie wollte Niklas Luhmann ein Theoriegebilde erschaffen, das es ermöglicht, sämtliche Bereiche der modernen Gesellschaft zu beschreiben und in ihrer Struktur zu verstehen. Der allgemeingültige Anspruch, den er dabei erhoben hat, ist weniger ein Wahrheitsanspruch, die einzig richtige Theorie zu liefern. Vielmehr bezog sich dieser Anspruch auf die Möglichkeit, die Welt in ihrer Gänze zu erfassen, ohne dabei eine normative Wertung vorzunehmen.

Bei der Entwicklung seiner Theorie ist Luhmann von der Frage motiviert, wie sich innerhalb der komplexen und unüberschaubaren Gesellschaft der Moderne Ordnung erklären lässt - eine Fragestellung, die auch schon bei Talcott Parsons impulsgebend ist. Luhmanns Ziel ist die Beschreibung der einzelnen gesellschaftlichen Systeme. Er geht davon aus, dass jedem gesellschaftlichen System eine Struktur zugrunde liegt, die sich auch in allen anderen Systemen oder Lebensbereichen wiederfinden lässt, seien es Wirtschaft, Bildung, Familie, Religion, Liebe, Recht, Politik oder Massenmedien. 

Systemtheorie: Urteilsfrei, aber von sozialem Nutzen

Zwar liefert die Systemtheorie keine Kritik an der Gesellschaft und enthält sich moralischer Urteile und zukunftsweisender Vorschläge. Dennoch lassen sich laut Luhmann auch aktuelle gesellschaftliche Probleme mit dem systemtheoretischen Ansatz betrachten. Steigende Arbeitslosenzahlen zum Beispiel ließen sich daraufhin überprüfen, ob sie die Folge eines Konjunktureinbruchs und damit eine Frage der Zeit sind, oder ob ihr strukturelle, systemimmanente, und damit dauerhafte Ursachen zugrunde liegen.

System und Umwelt

Ein wesentlicher Teil von Luhmanns Arbeit besteht in der Definition von Begriffen, die als eindeutige Kategorien die Grundlage für die Systemtheorie bilden sollen. So führt er für seine Theorie das operative Begriffspaar System/Umwelt ein und ersetzt damit die hergebrachten Kategorien Subjekt/Objekt. Auch Parsons hatte bereits mit dem Begriff System gearbeitet, jedoch lediglich als Konstruktion. Luhmann variiert die Theorie und geht davon aus, dass es tatsächlich Systeme gibt, die sich in einer "verändernden, im Ganzen nicht beherrschbaren Umwelt identisch halten". Umwelt ist alles, was das untersuchte System nicht ist. Auch die anderen Systeme sind Umwelt. Die Reduktion der Komplexität ist für Luhmann eine elementare Voraussetzung für soziologische Forschung, denn die Welt sei äußerst komplex, doch die menschliche Aufmerksamkeitsspanne nur sehr gering. Während ein System untersucht wird, werden die anderen "abgeschattet", nicht betrachtet. 

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Systeme sind selbstreferentiell

Luhmanns Systeme kennzeichnen sich unter anderem durch verschiedene Merkmale: Sie beziehen sich auf sich selbst, das heißt sie sind selbstreferentiell, und sie stellen sich selbst her. Hierfür benutzt Luhmann den Kunstbegriff der Autopoiesis. Die Systeme grenzen sich von ihrer Umwelt ab und haben alle einen spezifischen binären Code, im Rechtssystem zum Beispiel Recht-Unrecht. Dazwischen gibt es nichts, "Tertium non datur", sagt Luhmann. Jedes System hat seine ihm eigene Struktur. Als Struktur bezeichnet Luhmann die Erwartungen und Erwartungserwartungen. Systeme werden nicht nach ihrem Wesen bestimmt, sondern nach ihrer Funktion.

Beobachten und die Beobachtung beobachten

Die Kategorien System und Umwelt basieren darauf, dass jedes System von innen heraus eine Grenze zieht. Luhmann spricht dabei von der binären Codierung im Sinne von wahrnehmen und nicht wahrnehmen: Ein Beobachter, der ein Auto sieht, lenkt seinen Fokus in diesem Moment von all dem ab, was nicht Auto ist - auch dies ein Vorgang zur Reduktion von Komplexität. Der Beobachter selbst sieht in diesem Moment jedoch nicht, dass er unterscheidet. Somit entstehe ein blinder Fleck in der Beobachtung und es gebe keine vom Beobachter unabhängige Realität. Diese Erkenntnis ist nicht neu und taucht in Soziologie und Philosophie spätestens seit Immanuel Kant immer wieder auf. Luhmann jedoch radikalisiert sie für seine Theorie. Er benennt den "Beobachter zweiter Ordnung", der das Unterscheiden eines anderen Beobachters sehen könne, selbst aber wiederum in seinem eigenen System, in seiner eigenen Realität, wahrnehme und daher nicht den Blick auf das Ganze haben könne.

Kontingenz und doppelte Kontingenz

Kontingenz heißt, dass es immer viele verschiedene Handlungsoptionen gibt, von der eine ausgewählt wird. In der Interaktion wird die Kontingenz verdoppelt, da beide Interaktionspartner aus ihren vielfältigen Handlungsmöglichkeiten auswählen können. Für Luhmann ist die doppelte Kontingenz eine Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Systeme. Um die Beliebigkeit und Vielzahl der Möglichkeiten einzuschränken, operieren die Systeme in den ihnen eigenen Strukturen.

Luhmann Systemtheorie: Deskriptiv und konstruktivistisch

Hauptkritikpunkt an Luhmanns Systemtheorie ist ihr deskriptiver Ansatz. Da sie lediglich Methoden zur Beschreibung der Welt liefere, sage sie nichts über die Welt aus, was wir nicht schon wüssten. Es fehle das primär normative Element. Diese Kritik trifft die Theorie tatsächlich in ihrem Kern, in ihrem konstruktivistischen Ansatz. Luhmann war sich dessen bewusst, denn letztendlich sagt auch diese Kritik das aus, worauf er hinaus wollte: Dass wir nur das wahrnehmen, sprich beobachten können, was wir beobachten, und nichts, was darüber hinausgehe.

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Prof. Dr. Detlef Horster © picture-alliance/dpa Foto: Horst Galuschka

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Dieses Thema im Programm:

02.11.1990 | 19:15 Uhr

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