"Als 68er wollte man mit Luhmann nichts zu tun haben"
Dr. Detlef Horster ist Professor für Sozialphilosophie an der Leibniz Universität Hannover. 1976 promovierte er im Fach Soziologie. Für sein Buch "Niklas Luhmann" sprach er mit dem Soziologen ein Jahr vor dessen Tod über seine Biografie und sein Lebenswerk - die Systemtheorie. 2008 gibt er unter anderem Luhmanns "Die Moral der Gesellschaft" heraus. Im Gespräch mit NDR Online redete Detlef Horster über die Systemtheorie und den Privatmenschen Niklas Luhmann.
NDR.de: Herr Prof. Dr. Horster, heute ist die Systemtheorie unter Soziologen populär, das war aber nicht immer so. Die Systemtheorie konnte sich lange nicht durchsetzen.
Detlef Horster: Das war eine Folge des Nationalsozialismus. Wichtige Theorien wie die des Amerikaners Parsons konnten hier nicht Fuß fassen und sind erst sehr spät in Erscheinung getreten. In den 60er-, 70er-Jahren hatte die Systemtheorie hier überhaupt keine Chance. In dieser Zeit, in der das Bewusstsein der Menschen unglaublich normativ geprägt war, gab es die Auseinandersetzung zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas. Das Ziel von Habermas’ Soziologie ist ja eine gerechtere Gesellschaft. So etwas gibt es bei Luhmann nicht. Seine Theorie ist deskriptiv, sie will nur beschreiben.
NDR.de: In welchem Zusammenhang haben Sie Luhmann kennen gelernt?
Horster: Das war 1980 auf dem Soziologenkongress in Bremen. Zuvor war ich ganz auf der Seite von Habermas. Das war damals auch gar nicht anders möglich. Als 68er wollte man mit Luhmann nichts zu tun haben. Von seinem Vortrag auf dem Soziologenkongress war ich jedoch ganz hingerissen. Ich bin sofort in die Buchhandlung gegangen, habe mir den Vortrags-Band gekauft und von Stund an Luhmann gelesen. Ich habe nicht bei ihm studiert, mich später aber privat mit ihm ausgetauscht.
NDR.de: Was verbirgt sich - grob zusammengefasst - hinter Luhmanns Systemtheorie?
Horster: Luhmann selbst hat es so erläutert: Die Welt ist äußerst komplex, aber die Aufmerksamkeitsspanne des Menschen ist nur sehr gering. Wie schaffen wir es, dieses komplexe Gebilde "Gesellschaft" überhaupt zu erfassen? Von Biologen und Physikern hat er die Idee der kleinsten Einheiten, etwa der Zellen oder Atome, übernommen. Zwar haben alle den gleichen Aufbau, aber jeweils eine andere Qualität. In Luhmanns Gesellschaftstheorie sind die kleinsten Einheiten die Systeme. Auch sie haben alle den gleichen Aufbau, unterscheiden sich aber qualitativ. Die unterschiedlichen Systeme wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Politik schaut Luhmann sich nun an und analysiert auf diese Weise die Gesellschaft.
NDR.de: Welchen praktischen Nutzen hat Luhmanns Theoriegebilde?
Horster: Man kann einzelne Theoriebegriffe natürlich nicht einfach auf die Realität runterbrechen. An der Stelle muss man sich vielleicht fragen, welchen Sinn Theorie überhaupt hat. Sie ist ein Konstrukt, das uns hilft, die komplexe Realität zu erfassen. Gehirnforscher haben herausgefunden, dass in einer Sekunde 100 Megabyte Informationen auf einen Menschen einstürmen, der aber nur 16 Kilobyte verarbeiten kann. Alles andere muss also abgeschattet werden. Dabei hilft mir die Theorie. Ohne die würde unser Gehirn kollabieren.
NDR.de: Haben Sie ein konkretes Beispiel für eine systemtheoretische Einsicht?
Horster: Jedes System hat eine bestimmte Struktur, zum Beispiel eine Schule: Nehmen wir an, wir haben eine kollegiale Schulleitung, die beschließt. Das geht lange gut, die Lehrer richten sich danach. Aber eines Tages finden sie, sie gehören auch dem Kollegium an, sind mit den Beschlüssen der anderen nicht mehr einverstanden und halten sich nicht mehr an sie. Das greift um sich, die Strukturen brechen zusammen, das System Schule hört auf zu existieren. Oder man erkennt, dass die Strukturen zum Funktionieren des Systems geändert werden müssen. Man geht von der kollegialen Schulleitung weg und holt sich einen Schulleiter an die Schule, der dann bestimmt.
NDR.de: Das kann dann eine Verbesserung der Situation bedeuten, muss es aber nicht.
Horster: Richtig, entweder es funktioniert, oder es funktioniert nicht. Übrigens eine sehr beliebte Formulierung von Luhmann. Sie beschreibt den evolutionären Prozess. Die neue Schulleitung bestimmt im Gegensatz zur kollegialen Schulleitung und wir können sehen, ob das klappt, ob die Schule so einen evolutionären Schritt weiterkommt.
NDR.de: Die Systemtheorie ist eine hochintellektuelle Angelegenheit. Was für ein Mensch steht hinter einem solch abstrakten Lebenswerk?
Horster: Ich habe Luhmann als äußerst sympathischen, offenherzigen Menschen und warmherzigen Gesprächspartner kennen gelernt. Und er hat sich auch durchaus für andere Sachen interessiert. Die gingen allerdings oft daneben. Wenn zum Beispiel Besuch kam und er Tee aufgegossen hat, hat er vergessen, ihn wieder abzugießen. Der Tee war ungenießbar. Er sagte dann: "Irgendwie krieg ich das nicht hin. Machen sie das doch mal."
NDR.de: Von anderen Soziologen wird Luhmann als kühler Technokrat beschrieben. Passt das zum Privatmann Luhmann?
Horster: Er war sehr darauf bedacht, eine angenehme Umgebung zu haben. Es gab bei ihm ein Zimmer mit alten Möbeln, das seine Kinder Museum nannten. Darin fühlte er sich am wohlsten. Und es gab skurrile Sachen an ihm, die ich mochte. Zum Beispiel hatte er keinen Computer. Als ich ihn fragte, warum, sagte er: "Das geht nicht. Ich muss immer sehen, was hinten rauskommt." Und er hatte ein merkwürdiges Verhältnis zu Geld. Auf der einen Seite hatte er mal bei den Pfadfindern einen Vortrag gehalten, ohne dass es großartig Geld dafür gab. "Aber wissen sie, wenn es um Parkgroschen geht", sagte er, "da bin ich kniepig".
NDR.de: Als Luhmanns Frau 1977 starb, waren die Kinder zwischen 12 und 16 Jahre alt. Luhmann als alleinerziehender Vater Ende der 70er-Jahre - hat das funktioniert?
Horster: Er hatte zwar Unterstützung, hat sich im Wesentlichen aber selber um die Kinder gekümmert. Er hat allerdings () zugegeben, dabei manchmal ungeschickt gewesen zu sein. Wenn die Kinder Schwierigkeiten in der Schule hatten, gab es immer harte Auseinandersetzungen zwischen Luhmann und den Lehrern. Aber er hat gesagt, die Zeit mit seinen Kindern hätte ihm Freude gemacht. Die Kinder mussten sich schon auf die Arbeit des Vaters einstellen, sind aber auch viel mit ihm spazieren gegangen.
NDR.de: Haben Sie jemals Bekanntschaft mit Luhmanns Zettelkasten gemacht?
Horster: Ja, er hat ihn mir öfter gezeigt. Ich habe jedoch nie verstanden, wie er funktioniert. Luhmann sagte immer, wenn er die Zettel hintereinander legt, schreibt sich ein Buch wie von selbst. Offenbar hat es funktioniert. Ansonsten kann man sich kaum vorstellen, dass ein Mensch diese Publikationsfülle geschaffen und gleichzeitig noch gelebt hat.
Das Gespräch führte Simone Rastelli, NDR.de.