Shlomo und sein schlimmster Peiniger
Stanisław "Shlomo" Szmajzner überlebt den Holocaust. Als 16-Jähriger flieht er aus dem Vernichtungslager Sobibór bis nach Brasilien. Dort trifft er den Chef-Aufseher des Lagers Gustav Wagner wieder - den Mann, der ihm alles genommen hat.
An einem Tag im Oktober 1980 liegt in einem Haus bei São Paulo, Brasilien, ein Mann tot in seinem Badezimmer. Er ist blutüberströmt, ein Stich in die Brust beendete sein Leben. Der Tote, Gustav Wagner, ist der ehemalige Lagerspieß des Vernichtungslagers Sobibór. Hier wurden 1942 und 1943 bis zu 250.000 Juden getötet. Die brasilianische Polizei geht nach kurzer Untersuchung davon aus, dass Wagner sich selbst das Leben genommen hat. Doch kurz nach Wagners Tod kommt eine Postkarte bei einer Sobibór-Überlebenden in den USA an. Die mit der Karte verbundene Botschaft ist mehrdeutig: Ist die Postkarte ein Geständnis? Könnte Wagner doch anders als durch Suizid zu Tode gekommen sein?
Der Sobibór-Überlebende Stanislaw Szmajzner, genannt Shlomo, hatte Wagner, seinen Peiniger und den Mörder seiner Familie, Ende der 70er-Jahre auf einer Polizeiwache in São Paulo wiedergetroffen, mehr als drei Jahrzehnte nachdem sie sich zuletzt in Sobibór gesehen hatten. Als klar wird, dass Wagner in Brasilien für seine Taten nicht zur Rechenschaft gezogen wird, muss Shlomo eine Entscheidung treffen: Wird er zum Rächer? Die Journalisten Antonius Kempmann (NDR) und Martin Kaul (WDR) haben sich für die Doku-Serie und den Podcast "Shlomo - Der Goldschmied und der Nazi" auf die Suche nach der Wahrheit gemacht.
Shlomo Szmajzner: Ein wichtiger Zeuge von NS-Verbrechen
Als 15-jähriger Junge wird Shlomo Szmajzner von den Nationalsozialisten nach Sobibór gebracht und seine Familie sofort ermordet. Er selbst entgeht dem umgehenden Tod, denn er stellt sich den SS-Soldaten als Goldschmied vor - und aus Shlomo wird ein wichtiger Zeuge der Vernichtung von Juden durch die Nazis. Weil er weiß, wie man aus Gold Schmuck schmieden kann, lassen die SS-Leute im Vernichtungslager ihn am Leben.
Aus dem Gold und Zahngold der ermordeten Juden stellt Shlomo im Lager Schmuck für die Nazis her. Die Soldaten verzieren damit ihre Peitschen oder schenken den Schmuck ihren Frauen. So lernt Shlomo die SS-Wachmannschaft kennen - er lernt ihre Namen, ihre Ränge und ihre Vorlieben. Für die SS-Lageraufseher stellt er Ringe her mit der Lebens- und der Todesrune als Andenken für ihren Einsatz - auf Geheiß von Gustav Wagner. Als Szmajzner im Herbst 1943 aus Sobibór ausbricht, wird er zum wichtigen Augenzeugen. Denn er kennt alle Wärter und kann sie identifizieren.
Gustav Wagner: "Die Bestie von Sobibór" gilt als brutal
Der SS-Oberscharführer Gustav Wagner ist nicht der einzige Lageraufseher in Sobibór, aber er gilt als besonders brutal. Er entscheidet direkt an der Rampe über Leben und Tod. Immer wieder, so beschreiben es die wenigen Überlebenden später, habe Wagner sich wahllos Opfer gesucht, sie gedemütigt, erniedrigt und ermordet; so auch ein Baby vor den Augen seiner Mutter. Sein Ruf bringt ihm später den Beinamen "Die Bestie von Sobibór" ein.
Brasilien - Ein neues Leben und der Wunsch, zu vergessen
Als sich ihm auf der Rampe von Sobibór ein 15-jähriger Junge als Goldschmied vorstellt, beschließt er, ihn leben zu lassen. Von nun an lässt Wagner sich von Shlomo mit Schmuck versorgen - und hat Glück bei den Geschehnissen von Sobibór: Als einige jüdische Gefangene am 14. Oktober 1943 zur Revolte schreiten und Lageraufseher töten, ist er im Urlaub.
Shlomo kann dem Lager bei dem Aufstand entkommen und flieht nach Brasilien. Hier versucht er, sich eine neue Existenz aufzubauen und das Erlebte zu vergessen. Er versucht, ein normales Leben zu führen. Er heiratet, gründet eine Familie, geht zur Arbeit. Doch die Vergangenheit holt ihn immer wieder ein, die Erinnerungen an das Vernichtungslager lassen Shlomo nicht los.
Wagner und Stangl: Nazi-Verbrecher fliehen nach Südamerika
Stanisław "Shlomo" Szmajzner ist nicht der Einzige, der in Brasilien Zuflucht sucht. Auch Wagner flieht nach dem Krieg nach Brasilien. Unter seinem echten Namen lebt er unbehelligt in der Nähe von São Paulo. Wagner ist nur einer von etlichen gesuchten Nazi-Verbrechern, die in den 1940er- und 1950er-Jahren nach Südamerika einreisen - oft mit logistischer Unterstützung hoher Funktionäre der katholischen Kirche.
Ranghohe Nationalsozialisten halten sich in Südamerika versteckt, etwa der SS-Mann Franz Stangl, der ehemalige Lagerkommandant von Sobibór. Kaum jemand fragt dort nach ihrer Vergangenheit. Es lebt sich gut für die einstigen NS-Größen in Brasilien: Die deutsche Gemeinschaft bleibt häufig unter sich, viele zelebrieren Nationalbewusstsein und Führerkult. Und es scheint nicht zu interessieren, wer sie eigentlich sind - und was sie zu Kriegszeiten getan haben.
"Nazi-Jäger" Simon Wiesenthal spürt Gustav Wagner auf
Doch die Schlinge um die NS-Verbrecher zieht sich zu. Nach und nach werden sie von ihrer Vergangenheit eingeholt: Der Mossad entführt Adolf Eichmann, in Uruguay wird der Nazi-Kollaborateur Herbert Cukurs von Agenten erschlagen - und "Nazi-Jäger" Simon Wiesenthal ist Stangl und Wagner auf den Spuren. Im Februar 1967 können die brasilianischen Behörden Stangl verhaften.
Drei Monate später, am 23. Juni 1967 erfolgt Stangls Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland. Der Prozess gegen ihn beginnt am 13. Mai 1970. Auch Szmajzner sagt gegen ihn aus. Das Landgericht Düsseldorf verurteilt Stangl am 22. Dezember 1970 in einem der Treblinka-Prozesse wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 400.000 Menschen zu lebenslanger Haft. Dass auch Wagner in Brasilien lebt, weiß Szmajzner lange nicht.
Schicksalhaftes Aufeinandertreffen in São Paulo
Als Shlomo Szmajzner 1978 erfährt, dass Wagner wie er in Brasilien lebt und festgenommen wird, macht er sich auf den Weg nach São Paulo, um ihn auf dem Polizeirevier zu konfrontieren. 35 Jahre nach ihrer letzten Begegnung in Sobibór treffen sie sich wieder: Shlomo und Gustav Wagner - der Jude und sein schlimmster Peiniger stehen sich jetzt direkt gegenüber: Auge in Auge.
Die Weltpresse schaut zu, die Kameras laufen. Jetzt verhandeln diese beiden Männer ihre Geschichte. Es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nun kann die ganze Welt sehen, wer Wagner ist. Doch der gibt sich unbeeindruckt.
Gustav Wagner bleibt ohne Reue - und ohne Strafe
Reue für seine Verbrechen zeigt der einstige Lagerspieß Gustav Wagner nicht. In einem Interview mit der BBC am 18. Juni 1979 erklärt er: "Ich hatte keine Gefühle dabei … Es war nur irgendein Job für mich. Nach Feierabend haben wir nie über unsere Arbeit geredet, sondern wir tranken und spielten Karten."
Obwohl vier Staaten Wagners Auslieferung fordern, entscheidet der brasilianische Gerichtshof: Wagner wird nicht ausgeliefert. Er bleibt frei. Auch in Brasilien gibt es keinen Prozess. Dann, am 3. Oktober 1980, wird Wagner tot in seinem Bad gefunden.
Wie ist die "Bestie von Sobibór" gestorben?
Wie ist die "Bestie von Sobibór", der einstige Chef-Aufseher des Lagers, gestorben? War es die Rache des Juden Stanisław "Shlomo" Szmajzner? Oder verbirgt sich hinter diesem Verdacht doch nur der Wunsch derer, die auf späte Vergeltung hoffen? Sehen und hören Sie die Suche nach der Wahrheit in der ARD Mediathek und der ARD Audiothek.
In der Mediathek ist auch der Einteiler "Shlomo - Sehnsucht nach Rache" zu finden.