Otto Lilienthal: Der Wegbereiter für den modernen Luftverkehr
Otto Lilienthal gilt als erster erfolgreiche Flieger der Menschheit. Mehr als 2.000 Flugversuche absolvierte der Flugpionier, der durch seine Leidenschaft starb: Nach einem Absturz erlag der geborene Anklamer am 10. August 1896 seinen Verletzungen.
"Fast möchte man dem Eindrucke Raum geben, als sei der Storch eigens dazu geschaffen, um in uns Menschen die Sehnsucht zum Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser Kunst zu dienen." Otto Lilienthal hat in seine "Klassischen Texte zur Wissenschaft" übers Fliegen immer wieder auch poetische Zeilen eingestreut. Er war fasziniert von den Flugkünsten der Vögel, die ihm für seine Versuche als Vorbild dienen. Im 19. Jahrhundert gilt Otto Lilienthal als Luftfahrtpionier: Seine Forschungen zum Flugprinzip "schwerer als Luft", zum Konzept der Tragflächen und seine Gleitflüge bilden die Grundlage für den Bau moderner Verkehrsflugzeuge. Viele seiner Erkenntnisse aus Theorie und Praxis haben bis heute Bestand.
Flugversuche spielen schon in der Kindheit eine Rolle
Karl Wilhelm Otto Lilienthal wird als erstes von acht Kindern am 23. Mai 1848 in Anklam geboren. Sein Vater, der Tuchhändler Gustav Lilienthal, ist ein mathematisch und technisch begabter Mann. Als Kaufmann ist er eher weniger erfolgreich. Mutter Caroline hat in Dresden und Berlin Musik studiert. Kurz vor Ottos 13. Geburtstag verstirbt der Vater ganz plötzlich. Die Mutter versucht ihren Kindern trotz finanzieller Schwierigkeiten eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Otto und sein ein Jahr jüngerer Bruder Gustav besuchen ab 1856 das Gymnasium in Anklam. Schon in dieser Zeit studieren die Brüder akribisch Vogelflüge, darüber hinaus beschäftigen sie sich mit Flugversuchen und -experimenten. Schon mit 14 Jahren baut Otto Lilienthal Flügel, die sich an die Arme schnallen lassen und unternimmt einen ersten Flugversuch. Otto und Gustav sind durch Projekte und Erfindungen zeitlebens eng verbunden.
Otto Lilienthal veröffentlicht erste Schrift zum Vogelflug
Auch in seiner weiteren Ausbildungszeit in Potsdam, zunächst an der Provinzial-Gewerbeschule und später an der Königlichen Gewerbeakademie, experimentiert Otto Lilienthal weiter. Er testet unter anderem den Luftwiderstand mit einem Flügelschlagapparat. 1870 folgt eine kurze Unterbrechung, als er freiwillig in den Krieg zwischen Preußen und Frankreich zieht. Ab 1871 ist er in verschiedenen Firmen als Konstruktionsingenieur angestellt. 1873 treten die Brüder Lilienthal in die "Königliche Gesellschaft für Luftfahrt", die ihren Sitz in London hat, ein. Im selben Jahr veröffentlicht Otto Lilienthal einen ersten Aufsatz zur Theorie des Vogelfluges im Potsdamer Gewerbeverein. 1874 führen die Brüder Experimente mit Flugdrachen durch, dabei entdecken sie erstmals die Vorzüge leicht gewölbter Flügelflächen.
Praxis stellt den Flugpionier vor Herausforderungen
Otto Lilienthal hält ab 1889 zu Studienzwecken im Garten seines Wohnhauses in Berlin-Lichterfelde vier Störche. Er erkennt, dass die Luftbewegung unter den Vögeln langsamer als über ihnen ist - und dadurch Auftrieb entsteht. Auf dieser theoretischen Grundlage baut er seine Experimente auf. Es folgen Steh- und Laufübungen mit einem Flugapparat im freien Gelände. Man könne das Fliegen nur lernen, wenn man es übe, es zu üben, "ohne den Hals zu brechen"; das gelinge aber nur, "wenn man das Fliegen versteht", schreibt Lilienthal 1889 im Einführungskapitel in der "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst". Doch die Umsetzung der Theorie in Praxis ist für den Flugpionier eine große Herausforderung. Das Problem löst Otto Lilienthal mit einer Formel, die als "vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug" überliefert ist. Zunächst übt er stehend gegen den Wind, dann mit Sprüngen von einem Sprungbrett in seinem Garten, bevor er sich an den ersten Abhang wagt - und im Jahr 1891 rund 20 Meter durch die Luft gleitet. In einer Sandgrube bei Berlin-Steglitz unternimmt er Flugübungen mit einer Weite bis zu 80 Metern. Und am Gollenberg bei Rhinow fliegt Otto Lilienthal bei Gleitflügen sogar bis zu 250 Meter weit. Er erreicht dabei Geschwindigkeiten von bis zu 50 Stundenkilometern.
Insgesamt absolviert Otto Lilienthal in seinem Fliegerleben über 2.000 Flugversuche, auch mit seinem 1893 entwickelten Normalsegelapparat. Das Gleitflugzeug aus Stoff-bespanntem Weidenholz mit einer Spannweite von 6,70 Metern steuert er durch die Verlagerung seines Gewichts. Es ist das erste seriell gefertigte Flugzeug der Geschichte, das der Flugpionier in seiner eigenen Maschinenfabrik produziert und für 500 Mark verkauft.
Otto Lilienthal verunglückt an einem Flughügel im Havelland
Am 9. August 1896 steigt Otto Lilienthal wie schon so oft auf den 110 Meter hohen Gollenberg im Havelland. Unzählige Erprobungsflüge hat er hier bereits durchgeführt. Doch an diesem sonnigen Sommertag unterschätzt der geübte Flieger die Thermik - Warmluft steigt am Hang auf, den 48-Jährigen erfasst eine Windböe. Sein Gleiter gerät ins Trudeln, lässt sich nicht mehr steuern und schlägt dann ungebremst senkrecht auf dem Boden auf. "Ich muss mich nur etwas ausruhen, dann machen wir weiter", soll Otto Lilienthal nach dem Aufprall gesagt haben. Doch beim Transport in die Berliner Universitätsklinik fällt er ins Koma und stirbt schließlich einen Tag später an seinen Verletzungen.
Vorbild für Luftfahrtpioniere wie die Gebrüder Wright
Otto Lilienthal bleibt als Flugpionier und Visionär in Erinnerung: 1894 schreibt er in einem Brief von seiner Überzeugung, dass die Möglichkeit des freien Fluges zur "Veränderung all unserer Zustände" führen würde. Darin prophezeit er auch den "weltumspannenden Luftverkehr" als vermeintliche Wirkungen des Erfolges seiner Bestrebungen. Nach seinem Tod gerät Otto Lilienthal zunächst im eigenen Land in Vergessenheit, aber er inspiriert andere Wegbereiter der Luftfahrt wie die Gebrüder Wright. "Von allen, die das Problem des Fliegens im 19. Jahrhundert behandelten, war Otto Lilienthal zweifelsfrei der Bedeutendste", schreibt Wilbur Wright in einem Aufsatz, der im September 1912 im "Aero Club of America Bulletin" posthum veröffentlicht wird.