Wilhelm Schniedering: "Ich weiß gar nicht, wovon wir gelebt haben"
Wilhelm Schniedering, Jahrgang 1922, hat schon als Kind hart gearbeitet. Krieg und Gefangenschaft übersteht er mit "heiler Haut". Im Dezember ist Wilhelm Schniedering im Alter von 100 Jahren gestorben. Davor hat er dem NDR noch seine Geschichte erzählt.
Bodenständig und heimatverbunden: Wilhelm Schniedering hat sein ganzes Leben bei Melle im Landkreis Osnabrück verbracht - und schon früh gelernt, was Knochenarbeit bedeutet. Als Kind half er in der elterlichen Landwirtschaft mit. In seiner Ausbildung zum Dreher wurde er 1938 Teil der Kriegswirtschaft und musste Granaten produzieren. Als Soldat war Wilhelm Schniedering bei der Flugabwehr der Marine in Griechenland stationiert, bis er und seine Kameraden den Rückzug antreten mussten. Auf dem Weg in Richtung Norden litt er Hunger und geriet kurz vor Kriegsende in Genua in Kriegsgefangenschaft. "Wenn man mit einigermaßen heiler Haut da rausgekommen ist, muss man zufrieden sein", sagt er in der NDR Dokumentation "Ein Jahrhundertleben".
Schon in der Kindheit "wurden wir voll eingespannt"
Wilhelm Schniedering kommt am 9. Dezember 1922 in Barkhausen bei Melle zur Welt. Die Familie lebt in einem Fachwerk-Kotten. Seine Kindheit ist früh von harter körperlicher Arbeit geprägt, schon mit zwölf Jahren hilft er im elterlichen Betrieb bei der Kartoffelernte mit - "wir wurden voll eingespannt", beschreibt er die damaligen Bedingungen. Denn neben seiner Arbeit als Maurer unterhält Wilhelms Vater einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb.
Hermann Schniedering ist gezeichnet vom Ersten Weltkrieg, erst 1920 kam er aus der Gefangenschaft zurück. Er sei sehr gereizt gewesen, erinnert sich Wilhelm Schniedering. Mutter Elise hilft viel auf dem Hof mit. 109 Jahre alt sei sie geworden. "Vom Arbeiten geht keiner tot", sagt Wilhelm Schniedering voller Achtung in der Rückschau. "Meine Mutter war immer gut."
1930er-Jahre: Ausbildung und Dienst in der Hitlerjugend
1937 verlässt Wilhelm Schniedering 15-jährig die Volksschule. Seinen Berufswunsch Uhrmacher muss er schnell begraben, da der Weg zur entsprechenden Berufsschule nach Bielefeld zu weit ist. So beginnt er eine Lehre als Dreher in der Turmuhrenfabrik Korfhage in Melle-Buer. Dort ist er einer von sieben Auszubildenden, verdient am Tag 70 Pfennig.
Die aktuellen politischen Geschehnisse der NS-Zeit holen die Jugendlichen ein, wie seine Mitlehrlinge tritt auch Wilhelm in die Hitlerjugend ein. "Das ging nicht anders. Sonst hätten sie mich verstoßen", meint er rückblickend. Einmal in der Woche muss er dort seinen "Dienst" in der Organisation der Nationalsozialisten leisten. Die Älteren seien in der SA gewesen, sie hätten das judenfeindliche Wochenblatt "Der Stürmer" verkauft. Er bekommt außerdem mit, dass viele jüdische Viehhändler in die USA auswandern. "Für richtig empfunden haben wir das nicht. Aber hier in den ländlichen Regionen war das nicht so schlimm wie in den Städten", beschreibt Schniedering seine Eindrücke von damals.
1938 steigt seine Lehrfirma in die Produktion von Granaten ein. Viel gelernt habe er nicht, resümiert er enttäuscht die Anfangsjahre seiner Ausbildung. Das habe sich erst geändert, als er später für Focke-Wulf tätig ist. Der Flugzeugbauer entwickelt und baut damals unter anderem Verkehrsflugzeuge und Bomber.
Zweiter Weltkrieg: Harte Grundausbildung in Westpommern
Durch die Tätigkeit in der Rüstungsproduktion bleibt Wilhelm Schniedering der Arbeitsdienst erspart und er wird zunächst vom Wehrdienst zurückgestellt. Von der Eingliederung Österreichs ins nationalsozialistische Deutsche Reich erfährt die Familie aus dem Radio. Sein Vater tritt nicht in die Partei ein. Aber Wilhelm Schniedering sieht in der damaligen Entwicklung durchaus Vorzüge, weil "es erstmal aufwärts ging: Die Arbeitslosigkeit verschwand, es wurden Autobahnen gebaut", beschreibt er rückblickend seine einstigen Gedanken.
Im Winter 1941 wird Wilhelm Schniedering dann zur Wehrmacht einberufen. Seine achtwöchige Grundausbildung zum Rekruten leistet er im damaligen Landkreis Deutsch Krone in Westpommern ab. Die Bedingungen sind hart: "Mit zwölf Mann im Barackenlager auf einem Zimmer, zwei Briketts am Tag, mehr nicht. Und es war kalt." Weil er über 1,80 Meter groß ist, interessiert sich die Waffen-SS für ihn. "Bloß nicht zur SS", hofft Wilhelm Schniedering damals inständig. Weil er bereits eine Operation am Meniskus hinter sich hat, ist er - "Gott sei dank" - untauglich für Hitlers Schutzstaffel. In Wesel erhält er schließlich eine waffentechnische Ausbildung bei der Marine.
"Glück gehabt": Den Bombensplittern knapp entgangen
Wilhelm Schniedering wird zur Flugabwehr der Marine nach Griechenland abkommandiert. Auf dem Weg dorthin macht er Zwischenstation im bulgarischen Varna am Schwarzen Meer. Drei unbeschwerte Wochen verbringt er am sogenannten Goldstrand, kann sich alles kaufen. In Griechenland angekommen, wehrt seine Einheit vor allem britische Fliegerangriffe ab. Zunächst am U-Boot-Stützpunkt auf der Insel Salamis, der vermehrt Ziel der Alliierten ist, später dann am Hafen von Piräus und in der Hauptstadt Athen. "Wir waren so eine kleine Eliteeinheit", beschreibt Wilhelm Schniedring seine Truppe. Aber er erlebt auch brenzlige Situationen: "Ich war schon beim Sonderkommando in Athen auf dem Güterbahnhof in Stellung gegangen", sagt er, als Bombensplitter vier Meter neben ihm landen. Ja, er habe Glück gehabt.
Trotz der Ereignisse bleibt Wilhelm Schniedering positiv, er empfindet kein Heimweh. Er sei immer beschäftigt gewesen, manchmal habe es Abwechselung gegeben. So wie ein Besuch auf der Akropolis. "Ich bin mit den Griechen gut zurechtgekommen." Er spricht bereits einige Wörter Griechisch, als sein Einsatz nach zweieinhalb Jahren endet. Weil überall Fliegeralarm herrscht, setzt Wilhelm Schiederings Spezialeinheit zum Rückzug an.
"Die machen Mus von uns" - Gefangennahme in Genua
Der beschwerliche Rückweg führt Wilhelm Schniedering über den Balkan zunächst nach Sarajevo. "Es war die schlechteste Zeit", erinnert er sich. "Ich weiß gar nicht, wovon wir gelebt haben." Für ihn gibt es damals nur eine Devise - möglichst nach Norden: von Zagreb über Villach und Klagenfurt nach Bozen mit Ziel Genua. Er landet zunächst bei einer kleinen Einheit in Levico, kontrolliert dort italienische Fahrzeuge. Dann bekommt er den Marschbefehl nach La Spezia, doch bis dahin kommt er nicht mehr. Die Amerikaner stehen bereits acht Kilometer vor Genua - mit tausend Panzern. "Die machen Mus von uns", heißt es unter den deutschen Militärs. Kurz darauf "haben sie mich schon gepackt" - am 24. April 1945 gerät Wilhelm Schniedering in amerikanische Kriegsgefangenschaft. In einem Lager bei Pisa repariert er Schreibmaschinen - und freut sich endlich wieder über gutes Essen, nachdem er total ausgehungert gewesen sei.
Als im Juli die ersten Kriegsgefangenen entlassen werden, kann nach der Auflösung des Lazaretts auch der 22-Jährige Italien verlassen.
Kriegsende: "Es wurde uns so vieles verschwiegen"
Als Schniedering nach Hause kommt, sind seine Eltern gerade bei der Weizen-Ernte. Die Wiedersehensfreude ist groß: "Wir haben dich wieder", habe seine Mutter damals weinend gerufen. Und dann sei er auch gleich mit aufs Feld und habe mitgeholfen, beschreibt er den Moment seiner Rückkehr. "Es war schön, wieder zu Hause zu sein - und vor allen Dingen am Leben."
Denn viele Kameraden aus der Nachbarschaft sind in Russland gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. "Wenn man mit einigermaßen heiler Haut da rausgekommen ist, muss man zufrieden sein", resümiert Wilhelm Schniedering das Kriegsende. Von den Verbrechen der Nazis habe er erst nach dem Krieg aus Presse und Rundfunk erfahren. Darüber sei er wütend gewesen. "Das Wort Konzentrationslager hatten wir als Soldat noch nie gehört. Wie gesagt, es wurde uns so vieles verschwiegen", sagt er nüchtern.
Nachkriegsjahre: "Habe alle Schlechtigkeiten mitgemacht"
Nach dem Krieg arbeitet Wilhelm Schniedering in Kurzarbeit. Er verdient sich mit Schwarzhandel etwas dazu: "Ich will jetzt ganz ehrlich sein. Ich habe auch alle Schlechtigkeiten mitgemacht." Er stellt Rapsöl her, obwohl es verboten ist. Darüber hinaus brennt er für private Feiern Schnaps, für die Damen produziert er extra Likör. Es habe zu dieser Zeit ja auch nichts gegeben, erläutert Wilhelm Schniedering die Zeiten des Mangels. Dann kommt die Währungsreform - und es gibt wieder alles zu kaufen, von Fahrrädern bis Uhren. Wilhelm Schniederings Vater verkauft ein Schwein für 1.000 Mark und erwirbt von dem Geld einen Traktor.
50er-Jahre: Hochzeit mit Martha und Hausbau
Seine zukünftige Frau Martha arbeitet bei einem Bauern in der Nachbarschaft, als Wilhelm Schniedering sie kennenlernt. Das Paar heiratet im März 1953 kirchlich. Die Töchter Gunda und Inge komplettieren das Familienglück. 1958 fangen die Schniederings an, ein Haus zu bauen. Nach seinem Schichtdienst in einem Bohrwerk geht es für Wilhelm Schniedering mittags um 14 Uhr auf die Baustelle. Dort schuftet er bis abends um 20 Uhr.
Seine Frau kümmert sich derweil um die Kinder und den Haushalt. Sie macht den Führerschein, fährt die Mädchen im gebrauchten VW-Käfer bei schlechtem Wetter zur Schule oder holt sie ab. Er sei kein strenger Vater gewesen, doch meist habe er die Mädchen nur abends gesehen. Dafür geht es sonntagsmorgens mit der ganzen Familie ab in den Wald.
Alle drei Urenkel helfen über den Tod der Frau hinweg
Wilhelm Schniedering bleibt bis ins hohe Alter aktiv. Er habe wenig Zeit auf dem Sofa gelegen, "war immer draußen." Bis er 79 ist, hilft er dem Nachbarn bei der Apfelernte - und schleppt dabei nicht nur Kisten, sondern auch "so manchen 100-Euro-Schein weg." Martha und Wilhelm feiern 2003 Goldene Hochzeit. Einige Zeit später verunglückt seine Frau - sie stürzt die Kellertreppe hinunter. Da der Rettungswagen zu lange braucht, erhält sie nach einem Schädelbruch nicht sofort die richtige Behandlung.
Martha Schniedering kehrt im Rollstuhl nach Hause zurück, kämpft sich mühsam zurück ins Leben. Doch immer wieder hat sie Wasser in der Lunge und stirbt schließlich in der Kurzzeitpflege. Der Verlust seiner Frau ist schmerzlich für Wilhelm Schniedering. Aber er hat Glück, nicht ganz allein zu sein: Das wäre sehr schwer gewesen, sagt er. Für Ablenkung sorgen vor allem seine drei Urenkel, sie besuchen ihn jeden Tag. "Sie wollten dann Kika gucken." Und wenn er dann etwas anderes eingeschaltet hatte, hätten sie gerufen: "'Oh, Opa das nicht, das andere'", erinnert er sich mit einem Lächeln an die damalige Zeit.
Ein paar Wünsche bleiben offen
14 Jahre lebt Wilhelm Schniedering dann ohne seine Frau, auch viele Freunde und Verwandte fehlen ihm in seinen letzten Lebensjahren. Doch er bleibt sozial gut eingebunden, wird in der Nachbarschaft eingeladen - mal zu einem Polterabend, mal zu einem 90. Geburtstag. Trinkt sein Bierchen. Und versucht, beweglich zu bleiben: Nach mehreren Stürzen gibt ihm ein Rollator Sicherheit - und den nutzt er, um täglich mindestens einen halben Kilometer spazieren zu gehen.
Man müsse es so nehmen, wie es kommt, sagt Schniedering über das Älterwerden. 100 Jahre alt zu werden - da müsse man dankbar sein, doch: "Einmal kommt der Tag." Dieser Tag kam jetzt: Am 16. Dezember, eine Woche nach seinem 100. Geburtstag, ist Wilhelm Schniedering gestorben. Zwei seiner Wünsche konnten nicht mehr in Erfüllung gehen. Gerne hätte noch die Hochzeit einer seiner Urenkel erlebt. Und, dass seine Urenkelin, die gerade den Jagdschein gemacht hat, "mit einem Hasen nach Hause kommt."