VIDEO: Walter Benthin: "Das hätte ich eigentlich nicht überleben dürfen" (23 Min)

Walter Benthin: "Von Verbitterung halte ich nichts"

Stand: 05.01.2023 05:00 Uhr

Walter Benthin, Jahrgang 1923, wird im Zweiten Weltkrieg mehrmals schwer verletzt - und hat das Grauen an der Ostfront miterlebt. Wenn er auf diese und andere Härten seines Jahrhundertlebens zurückblickt, sagt er dennoch: "Ich will positiv leben."

von Johannes Huhmann und Heike Schieder

Auch wenn Walter Benthin mittlerweile einen Teil seiner Zeit bei seiner Lebensgefährtin in Zarrentin verbringt, ist er seit fast 100 Jahren Ratzeburger. Seine Kindheit und einen Teil seiner Jugend verbringt er dort. Im Zweiten Weltkrieg kämpft er an der Ostfront - eine Zeit, die er wegen ihrer Härten heute noch in Teilen verdrängt. Nach dem Krieg kehrt er nach Ratzeburg zurück, gründet mit seiner ersten Frau Erna eine Familie, baut ein Haus und macht sich nach seiner Pensionierung als Steuerberater selbständig. Noch heute hilft er Mitgliedern seiner großen Familie bei der Steuererklärung - auch, weil er Freude daran hat. "Man muss die Dinge mit Spaß und Lässigkeit machen, sonst wird das nichts", sagt Benthin in der NDR Dokumentation "Ein Jahrhundertleben".

Walter Benthin: "Meine Mutter war nur Liebe"

Das Kolonialwarengeschäft der Eltern von Walter Benthin in Ratzeburg, undatierte Aufnahme. © privat
Walter Benthins Eltern haben in Ratzeburg ein Lebensmittelgeschäft betrieben, damals auch Kolonialwarenladen genannt. Die Inflation machte der Familie sehr zu schaffen.

Walter Benthin kommt am 28. Januar 1923 als jüngstes von drei Kindern in Ratzeburg zur Welt. Die Familie betreibt ein kleines Lebensmittelgeschäft. Sein Vater, ein gelernter Gärtner, war im Ersten Weltkrieg an der Hand verwundet worden und hatte beruflich umsatteln müssen. "Meine Mutter war nur Liebe", sagt Benthin. "Mein Vater war etwas strenger, aber mit ihm war auch alles wunderbar. Meine Eltern bemühten sich um mich, waren sehr hinterher, dass ich etwas machte und weiterkam."

Weltwirtschaftskrise 1929: "Es ging uns nicht sehr gut"

Dass sie sich sehr anstrengen müssen, um überhaupt durchzukommen, bekommen die Benthins mit der Weltwirtschaftskrise ab Ende der 1920er-Jahre zu spüren. "Es ging uns nicht sehr gut", erinnert sich Benthin an die Zeit der Massenarbeitslosigkeit. "Weil keiner etwas kaufte, hatten meine Eltern kein Geld." Gebadet wird in einer Zinkwanne auf dem Hof - in den Luxus einer Spültoilette kommt die Familie erst Jahre später. Um genug zu essen zu haben, halten sich die Benthins ein Schwein.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 verbessert die wirtschaftliche Lage von Walter Benthins Familie deutlich. Der Absatz seines Vaters kommt in Schwung, weil dieser bald auch das Militär beliefert. Somit profitiert das Lebensmittelgeschäft von der Aufrüstung der Reichswehr, aus der 1935 die Wehrmacht hervorgeht. 

Vater als NSDAP-Funktionär: Eine Stufe über dem Blockwart  

Walter Benthins Eltern posieren vor einem Busch; sein Vater trägt eine NSDAP-Parteiuniform. © privat
Walter Benthins Vater (hier auf einem Bild mit Benthins Mutter) war einer der NSDAP-Zellenleiter in Ratzeburg.

Politisch, erzählt Benthin, stehen seine Eltern damals rechts. Worin sich dies konkret äußert, lässt Benthin im Gespräch mit dem NDR im Vagen. "Wir waren keine Politiker zu Hause, überhaupt nicht." Sein Vater ist jedoch Mitglied in der NSDAP, dort in der Funktion des Zellenleiters tätig. Der Zellenleiter stand an sechster Stelle in der Rangliste der NSDAP-Funktionäre und verwaltete vier bis acht Blocks, denen jeweils ein sogenannter Blockwart vorstand. Eine der Aufgaben des Zellenleiters war es, dem NSDAP-Ortsgruppenleiter regelmäßig einen Bericht zur Stimmung in der Bevölkerung zu liefern. 

Mit zehn ins Jungvolk: "Man war dabei und fertig war das"

Walter Benthin posiert als Jugendlicher strammstehend in der Uniform der Hitlerjugend. © privat
Walter Benthin in der Uniform der Hilterjugend. Über seine Zeit beim Jungvolk sagt er: "Man war dabei und fertig war das."

1933 kommt Benthin ins Jungvolk, der Jugendorganisation der Hitlerjugend für Jungen zwischen zehn und 14 Jahren. Er erinnert sich an sogenannte Heimabende mit Gesang und Zeltlager, fühlt sich damals wohl dort. "Das war ja alles die gleiche Sorte", erzählt Benthin. "Man war dabei und fertig war das". 

In der Schule läuft es für den Ratzeburger nicht rund. "Ich war Legastheniker - und deshalb war die Schulzeit die schlimmste Zeit meines Lebens. Hört sich brutal an, war aber so. Ich kam nie weiter - und das war für meinen Vater keine gute Sache." Der erwartet von seinem Sohn, mindestens die Mittlere Reife zu erlangen. Doch die Lehrer auf der Mittelschule werden mit Benthins Lese-Rechtschreib-Schwäche nicht fertig, bereiten eher zusätzliche Probleme, als zu helfen. Die Lösung bringt ein Wechsel auf die Handelsschule. Die verlässt Benthin nach zwei Jahren mit der Mittleren Reife in der Tasche - und lässt auch ein Stück weit seine Legasthenie hinter sich. "Ganz weg geht das nie. Aber es ist seitdem um 75 Prozent besser geworden." 

Beginn des Zweiten Weltkriegs unterbricht Ausbildung 

Eine Gruppenbild mit jungen Männern in hellen Uniformen des Reichsarbeitsdienstes. © privat
Beim Reichsarbeitsdienst in Frankreich arbeitete Walter Benthin (vorne rechts) zunächst bei den Maurern, später als Lohnbuchhalter.

Was der dann 16-Jährige auch hinter sich lässt, ist sein Zuhause. Er zieht ganz in den Süden Deutschlands, nach Herrsching am Ammersee, um dort die Reichsfinanzschule zu besuchen. Sein Ziel: eine Laufbahn beim Finanzamt. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 sorgt dafür, dass der Lehrgang auf ein halbes Jahr verkürzt wird. Im Oktober kommt Benthin als Finanzanwärter ans Finanzamt Lübeck. Der unfertige Nachwuchs soll die Reihen jener Beamten auffüllen, die bereits an der Front sind. 

Abschließen kann Benthin seine Ausbildung zum Finanzbeamten während des Krieges nicht mehr. 1941 kommt er zum Reichsarbeitsdienst - zunächst zur Ausbildung nach Harrislee bei Flensburg, dann ins besetzte Frankreich. An verschiedenen Orten arbeitet seine Einheit für die Luftwaffe, etwa beim Flugplatzbau. Ende März 1942 ist Benthin aus Frankreich zurück und wird in Ratzeburg zur Wehrmacht eingezogen. Er kommt zu dem Teil der Truppe, der sich im Krieg um Fernsprech- und Funkverbindungen kümmert.

Nicht alles aus dem Krieg erzählen 

Porträtaufnahme: Walter Benthin als Soldat in der Uniform der Wehrmacht © privat
Walter Benthin als Wehrmachtssoldat zu Beginn des Zweiten Weltkrieges.

Im Juni 1942 geht es nach Russland an die Front. Der heute 99-Jährige weiß allerdings, dass in seinen Erinnerungen an den Krieg mittlerweile "die Zeiten völlig durcheinander" geraten. "Ich kriege das nicht sortiert." Gleichzeitig macht er klar, dass er "auch vieles vom Krieg nicht erzählt" - und insbesondere einiges von dem, was er an der Ostfront erlebt und gemacht hat, lieber für sich behält.

Nach Kriegsverletzung ausgeflogen mit der "Ju 52" 

Ein paar Dinge gibt er aber doch preis. Benthin landet mit seiner Einheit im Kessel von Demjansk, 380 Kilometer nordwestlich von Moskau. Hier waren ab Februar 1942 sechs deutsche Divisionen von der Roten Armee eingekreist worden, die sich in der Stadt nur durch massive Versorgung aus der Luft halten konnten. Bei einem deutschen Angriff mit dem Ziel, den Kessel zu öffnen, kommt Benthin im Juni als Soldat in die Stadt - und wird im Oktober zum ersten Mal verwundet. "Nichts besonderes, nur lebensgefährlich", sagt er lakonisch. Der Splitter einer Granate hat seine Halsschlagader getroffen. "Das hätte ich eigentlich nicht überleben dürfen." Ein Kamerad setzt sich neben ihn und drückt die Wunde 20 Minuten ab. "Dann war die dicht."

"Ich wurde dann mit dem legendären Flugzeug 'Ju 52' aus dem Kessel ausgeflogen", erinnert sich Benthin. Er kommt schließlich für vier Monate in ein Lazarett in Sachsen. Als er im Februar 1943 wieder an die Front geschickt wird, wird Benthin Teil einer Kompanie, die sich in der Stadt Staraja Russa, südlich des Ilmensees, verschanzt hat. Er ist mal als vorgeschobener Beobachter im Einsatz, mal als Nachrichtenmann für das Telefonkabel zur Hauptkampflinie zuständig. 

"Soldaten willentlich in den Tod gejagt"

Vier Wehrmachtssoldaten posieren vor dem Eingang ihrer primitiven Unterkunft. © privat
Einige von Walter Benthins Kameraden an der Ostfront in Russland. Der Zweite von rechts starb später durch einen Bauchschuss.

Mehrmals kommt Benthin im Krieg in lebensgefährliche Situationen - und schreckt, wie er es beschreibt, auch vor nichts zurück: "Ich machte alles mit, jederzeit. Wie gefährlich das war - völlig egal." Er erlebt, wie die Pferde seiner Einheit von einer sogenannten Stalinorgel - einem speziellen russischen Raketenwerfer, der ein nervenzerreibendes Heulen verursacht - zerfetzt werden. Benthin geht auf Spähtrupps, von denen einige seiner Kameraden nicht zurückkommen. Er steht direkt neben einem Kumpel, als der einen Bauchschuss erleidet - und zwei Tage später stirbt. Und Benthin ist dabei, als hunderte anstürmende russische Soldaten mit Maschinengewehren niedergemäht werden - sein nach eigener Aussage schrecklichstes Erlebnis im Krieg. Die Soldaten seien willentlich in den Tod gejagt worden. 

Für seine Einsätze an vorderster Front wird Benthin mit der "Nahkampfspange" ausgezeichnet. Diese Auszeichnung erhielten im Zweiten Weltkrieg Soldaten, die eine bestimmte Anzahl von Tagen im Nahkampf - also Mann gegen Mann - verbracht hatten. "Das ist der einzige Orden, der wirklich zeigt, dass man vorne war", sagt Benthin. "Die anderen Auszeichnungen kriegst du ja für alles. Aber die 'Nahkampfspange' - dann ist man dort gewesen, wo was los war." Man merkt ihm an, dass ihm diese Auszeichnung - trotz allem - bis heute etwas bedeutet.

Vor Kriegsende erneut zweimal schwer verletzt  

Walter Benthin posiert als Soldat in Uniform mit seinem Vater vor einer Hauswand. © privat
Wehrmachtssoldat Walter Benthin bei einem Treffen mit seinem Vater in Ratzeburg.

In den letzten Monaten des Krieges gehört Benthin zur Division Döberitz, die ab März 1945 zunächst an der Oder-Front, dann später bei der Schlacht um Berlin gegen die Rote Armee kämpft. "Wir wurden mit Bussen der Berliner Verkehrsbetriebe an die Front gefahren", erinnert er sich. In dem kleinen Ort Alt Tucheband, 80 Kilometer östlich von Berlin, erlebt Benthin einen Großangriff - und wird getroffen. "Zwei Durchschüsse durch den Oberschenkel. Aber keine Knochen kaputt, sondern nur angeritzt. Damit marschierte ich dann einige Kilometer."

Zunächst aus der unmittelbaren Gefahrenzone raus, findet er völlig erschöpft Schutz hinter dem Geschützturm eines Panzers. Er unterhält sich noch mit dem Kommandeur des Fahrzeugs, der aus der Luke guckt - kurze Zeit später werden sie beschossen. Wieder wird Benthin getroffen. "Ein Panzer schoss mir den gesamten Mittelfußknochen raus."

In Kriegsgefangenschaft: "Operieren war lebensgefährlich"

Schließlich wird Benthin aus der Kampfzone in ein Lazarett in Beelitz, südwestlich von Berlin, gebracht. Als die Rote Arme den Ort erreicht, kommt er in sowjetische Kriegsgefangenschaft und wird in ein Lazarett in Magdeburg verlegt. Das Kriegsende am 8. Mai 1945 erlebt er nicht als großen Einschnitt: "Wir waren vorher beim Russen im Lazarett und nachher beim Russen im Lazarett. Da änderte sich gar nichts." Und betont dabei: "Mit den Russen, die uns bewachen sollten, kamen wir sehr gut aus. Alles ganz nette Leute."

Seine Fußverletzung ist bis dahin nur notdürftig versorgt. "Operiert wurde dort nur, wenn einer kurz vor dem Sterben war. Es war lebensgefährlich, weil nichts vernünftig steril war." Als Benthin hört, dass es einen Invalidentransport in den Westen geben soll, sieht er seine Chance: Er überzeugt den deutschen Arzt, mit den verantwortlichen russischen Ärzten zu reden. "Fünf Minuten später war ich aus der russischen Gefangenschaft entlassen." 

Rettende Operation in Bad Pyrmont 

Nach einigen Zwischenstationen landet Benthin schließlich in einem Lazarett in Bad Pyrmont. Dort findet er endlich einen Arzt, der ihn operieren kann. Der Eingriff sorgt dafür, dass der Ratzeburger einen Stumpf am Ende seines Beines behält, mit dem er den Boden berühren kann. "Dadurch hänge ich nicht irgendwo in der Luft", erklärt Benthin.

Erinnerung an Kriegsschrecken: Verdrängung als Selbstschutz

Rückblickend sagt der 99-Jährige über den Krieg: "Ich hatte eigentlich immer Glück. Wie ich das verdient hatte, weiß ich nicht, aber ich hatte es." Auch dass der Panzer ihm kurz vor Ende einen Teil seines Fußes weggeschossen hatte, wertet er als Glücksfall: "Wenn ich die Verletzung nicht gehabt hätte, wäre ich heute nicht mehr. Ich kam dort nur weg, weil ich diese Verwundung hatte."

Im langen Gespräch für "Ein Jahrhundertleben" erweckt Benthin hin und wieder den Eindruck, der Krieg habe ihn kaum mitgenommen. Etwa wenn er sagt: "Der ganze Krieg ist an mir vorübergezogen." Oder: "Ich hatte damit praktisch nichts zu tun, das lief so ab." Über seine Art, auf die Schrecken des Krieges zurückzublicken, sagt er: "Ich muss das positiv sehen." Dies sei auch ein Schutz für ihn - schmerzhafte Erinnerungen an die Zeit verdränge er "automatisch." Er würde nicht weiter über den Krieg nachdenken. "Das ist halt so - und ich habe immerhin fast 100 Jahre überstanden damit."

Krankenschwester Erna: Am Anfang gab es Ärger

Porträt: Erna Benthin als Krankenschwester © privat
Im Lazarett in Bad Pyrmont lernte Walter Benthin seine spätere Frau Erna kennen.

Nicht nur, weil er eine rettende Operation für seinen Fuß erhält, ist Benthins Aufenthalt in Bad Pyrmont ein Wendepunkt in seinem Leben. Hier lernt er seine spätere Frau Erna kennen, eine Krankenschwester. Mit ihr hat er allerdings erst einmal Ärger: Weil er tagsüber in die Stadt geht und sich abends nicht bei ihr zurückmeldet, rüffelt sie ihn am nächsten Morgen.

Aus der anfänglichen Kabbelei wird Zuneigung, die beiden werden ein Paar. Später gibt er ihr den Spitznamen Fritz. "Das ging mir irgendwie leichter von den Lippen, wenn ich sie gerufen habe." Die beiden verloben sich in Bad Pyrmont und ziehen 1947 nach Ratzeburg. Im Dezember folgt die Hochzeit, ganz im Zeichen der kargen Nachkriegsjahre: Gefeiert wird sehr einfach, neben der engeren Familie kommt nur ein Gast und Erna Benthin trägt ein blaues Kleid, leicht aufgepeppt mit einem weißen Schleier.

Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder in Ratzeburg 

Der Finanzbeamte Walter Benthin steht vor einem Schrank mit Akten. © privat
Nach dem Krieg wurde Walter Benthin Finanzbeamter und war lange im Außendienst tätig.

Walter Benthin macht seine Ausbildung fertig, wird Finanzinspektor und beginnt seine Karriere beim Ratzeburger Finanzamt. Das Paar wohnt zunächst bei seinen Eltern, dann teilen sie sich eine Wohnung mit anderen, wie es damals viele gemacht haben. Im Oktober 1948 bekommen die Benthins einen Sohn. Als sich das zweite Kind ankündigt, wird klar: Der Platz reicht nicht mehr. Schließlich baut die Familie und zieht 1954 in die eigenen vier Wände. 1956 und 1957 wächst die Familie um zwei weitere Kinder. 

Die Wirtschaftswunder-Jahre sind für die Familie geprägt von erzwungener Sparsamkeit auf der einen und Konsumwünschen auf der anderen Seite. Benthin kauft mal Schmuck für seine Frau, mal einen Fotoapparat für sich - und zahlt in Raten. "Ich habe schon mal Schulden gemacht. Aber immer so, dass ich es überblicken konnte."

Ein Autounfall verändert das Leben

Durch seine Arbeit ist Benthin viel unterwegs, arbeitet ab 1952 im Außendienst. An der Erziehung der Kinder hat er daher nach eigener Aussage keinen sehr hohen Anteil. Trotzdem achtet er darauf, ihnen einige Grundsätze mitzugeben: "Dass sie zusammenhalten, dass sie ordentlich sind und dass sie für ihre Leute da sind." 

Im Jahr 1976 erleidet die Familie einen Schicksalsschlag: Bei einem Autounfall kurz nach Weihnachten wird Benthins Sohn Klaus, sein Erstgeborener, schwer am Kopf verletzt. Er überlebt, hat aber ein Leben lang mit den Folgen zu kämpfen. Eigentlich habe dem 28-Jährigen eine große Karriere als erfolgreicher Jurist gewunken, sagt Benthin: "Der wäre auf jeden Fall Professor geworden." Das ist nun nicht mehr möglich - trotzdem kann sein Sohn noch arbeiten, hält zum Beispiel Vorlesungen. Vor einigen Jahren stirbt er dann an den Spätfolgen des Unfalls. Dennoch sagt Benthin: "Wir sind dankbar, dass er noch so lange gelebt hat." 

Besuche in der DDR: Angst und Vorsicht bei den Menschen 

Walter Benthin mit seinen beiden Schwestern © privat
Walter Benthins Schwestern heirateten schon vor dem Zweiten Weltkrieg nach Mecklenburg, sodass der Eiserne Vorhang die drei später trennte.

Benthins beide Schwestern waren schon vor dem Krieg nach Mecklenburg gezogen, hatten dort geheiratet. Somit wird die deutsch-deutsche Teilung zu einem wichtigen Teil im Familienleben. Benthin besucht seine Schwestern gerne, bemerkt in der DDR aber auch Angst und Vorsicht der Menschen im Umgang miteinander. Bei einer Konfirmation in Hohenzieritz setzt sich ein Uniformierter an den Tisch, an dem Benthin mit dem Pastor, seinem Schwager und anderen gerade ganz offen plaudert. "Das dauerte nicht lange, und die mussten alle pinkeln gehen. Plötzlich waren alle weg. Später sagten die zu mir: Den kannten wir nicht. Und so lebten die - immer bedrückt. Da stimmte doch was nicht."

Bundesverdienstkreuz für Ost-West-Engagement 

In der Zeit nach dem Mauerfall bekommt Benthin Post von verschiedenen Schützenvereinen aus dem Osten. Der Grund: Er ist Vorsitzender der Ratzeburger Schützengilde - und die Vereine aus Mecklenburg bitten um Hilfe. Wegen eines neuen Vereinsgesetzes müssen sie sich neu gründen, wissen aber nicht, worauf sie dabei achten müssen. Benthin unterstützt, wo er nur kann, besucht die Vereine, lernt Menschen kennen, gibt Ratschläge. Dafür machen ihn Schützenvereine in Gadebusch, Schönberg und Wittförden später zum Ehrenvorsitzenden. 

Das Projekt: Jahrhundertleben - Das Vermächtnis der 100-Jährigen

Für seinen ehrenamtlichen Einsatz in Mecklenburg wird Benthin 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Er erhält es aus den Händen des damaligen mecklenburg-vorpommerschen Ministerpräsidenten Erwin Sellering. "Ein sehr netter Mann - der hat sich Zeit genommen", erinnert sich Benthin. "Ich habe ihm eine Marzipantorte mit dem Konterfei des Ratzeburger Doms mitgebracht."

Ein großer Verlust - und eine neue Partnerin fürs Leben

Walter Benthin und Agathe Wöhler sitzen bei Dreharbeiten zur NDR Dokumentation "Ein Jahrhundertleben" in ihrem Garten in Zarrentin. © NDR Foto: André Bacher
Die gemeinsame Zeit mit seiner neuen Partnerin genießt Walter Benthin im Zarrentiner Garten.

2009 stirbt Erna Benthin. "Leider viel zu früh", sagt Benthin, wenn er an Fritz, seine "liebe Frau", zurückdenkt. 63 Jahre hatte die Ehe gehalten - wie schafft man das als Paar? "Wenn man sich versteht und zusammenhält, dann braucht es nichts weiter." Noch heute macht er sich Vorwürfe, dass sie die Anzeichen für einen Herzinfarkts nicht ernst genommen hätten.

Einige Jahre später tut er sich mit einer alten Schulkameradin zusammen. "Wir sagten uns: Was wollen wir denn beide allein?" Seine heutige Lebensgefährtin Agathe Wöhler ist ebenfalls 99 Jahre alt und wohnt in Zarrentin. Nun pendelt Benthin seit einigen Jahren zwischen seiner Wohnung in Ratzeburg und dem Haus seiner Partnerin in der Stadt am Schaalsee.

Eine große Familie mit enger Bindung

Walther Benthin sitzt auf einem Sofa im Kreise einiger seiner Enkel und Urenkel. © privat
Walter Benthin im Kreise seiner Jüngsten: Insgesamt hat er 13 Enkel und 17 Urenkel.

Benthins große Familie - neben seinen drei verbliebenen Kindern hat er 13 Enkel und 17 Urenkel - lebt mittlerweile über die Republik verstreut. Dennoch fühlt er sich gut umsorgt. "Wir haben eine sehr enge Bindung. Wenn ich Schwierigkeiten habe, ist sofort jemand da." Dass er mit dafür gesorgt hat, dass die Mitglieder seiner Familie gegenseitig auf sich achtgeben, macht ihn stolz.

"Ständig jammern bringt nichts" 

Auf die Frage nach dem roten Faden in seinem Leben antwortet Walter Benthin: "Ob es Krankheiten waren, ob das im Politischen war, ob es der Krieg war - ich habe alles über mich ergehen lassen, ohne mir große Sorgen zu machen." Bei anderen alten Menschen registriere er zum Teil Verbitterung. "Da halte ich aber nichts von. Ich habe zwar auch hier und da Schmerzen, aber da mache ich kein großes Gedöns rum. Ständig jammern bringt nichts - ich will positiv leben."

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Dieses Thema im Programm:

Ein Jahrhundertleben | 02.01.2023 | 22:00 Uhr

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