Elfriede Berkhahn: "Wir sind um unsere Jugend betrogen worden"
Elfriede Berkhahn, Jahrgang 1924, wächst behütet in Oberschlesien auf. Im Zweiten Weltkrieg muss sie flüchten, leidet Hunger und muss ihren Traum, Lehrerin zu werden, begraben. Trotzdem blickt die 98-Jährige positiv auf ihr Jahrhundertleben.
Mit ihren 98 Jahren ist Elfriede Berkhahn die älteste Bewohnerin von Ramlingen in der Region Hannover - und hält auch den Altersrekord in ihrem Seniorenheim. Dort lebt sie seit gut einem halben Jahr - hat sich von 116 auf 16 Quadratmeter verkleinert. Sie wundere sich über sich selbst, wie gut sie diesen Wechsel überstanden habe. Traurig ist sie allerdings darüber, dass sie nicht mehr stricken kann. Auch Augen und Ohren sind nicht mehr so gut. "Aber das ist nicht so wichtig, dafür bin ich geistig noch voll da - und kann mich so gut erinnern." An diesen Erinnerungen lässt sie in der NDR Dokumentation "Ein Jahrhundertleben" teilhaben - etwa wie der Zweite Weltkrieg ihren Berufstraum hat platzen lassen und zu Flucht und Hunger geführt hat.
"Schöne Kindheit" in einem behüteten Elternhaus
Elfriede "Friedel" Berkhahn kommt am 6. August 1924 als Elfriede Scholl in Bad Carlsruhe in Oberschlesien, im heutigen Polen, zur Welt - als jüngstes von vier Kindern. Mit den älteren Schwestern Lucie, Magdalene und Margarete erlebt sie "eine schöne Kindheit", wächst in einem behüteten, harmonischen Elternhaus auf. Hermann Scholl ist Beamter - leitet das Katasteramt in dem Kurort. Mutter Agnes ist Hausfrau. Einmal in der Woche kommt eine Putzfrau. "Mein Vater war zehn Jahre älter als meine Mutter, sie haben sich gut verstanden", erinnert sich Elfriede Berkhahn. Die Eltern verbringen viel Zeit mit den Kindern, die Familie geht Pilze suchen, der Vater liest seinen Kindern viel vor, die Mädchen dürfen sich Bonbon-Tüten im Kaufmannsladen holen. Für Elfriede bleiben die Eltern stets Vorbild - auch im späteren Leben.
Schulzeit: Schlag mit dem Rohrstock schmerzt bis heute
Weniger gute Erinnerungen hat Elfriede Berkhahn an die Schulzeit. Gleich in der ersten Klasse erlebt die ABC-Schützin den Drill eines damals autoritären Systems: Weil sie aus dem Fenster schaut, um ältere Schülerinnen und Schüler zu beobachten, schlägt der Lehrer sie mit dem Rohrstock auf die Hand. Eine unverzeihliche Erinnerung, die sie bis heute schmerzt.
Judenverfolgung: "Pelzmantel, Schmuck - das war verdächtig"
Anders die Nachmittage beim Bund Deutscher Mädel, dem sie wie ihre Schwestern in den 30er-Jahren beitritt. "Es war schön", resümiert sie rückblickend ihre Empfindungen. Und es sei nicht zu erkennen gewesen, was danach kommen sollte. Allerdings fällt ihr schon damals auf, dass plötzlich jüdische Geschäfte verschwinden. Und eine "Angestellte des Kataster-Amts, deren Bruder bei der SS war, plötzlich einen Pelzmantel und Schmuck hatte." Das sei verdächtig gewesen. Außerdem "wusste man von Konzentrationslagern, aber nicht, was dort passiert." In der Schule muss sie das Lied des "strammen SA-Soldaten" Horst Wessel singen. In solch eine beklemmende Situation könne man sich heute gar nicht mehr hineinversetzen, merkt Elfriede Berkhahn rückblickend an.
Flucht vor der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg
Elfriede Berkhahns Schulzeit endet mit der 10. Klasse. Mit Kriegsbeginn wird sie zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, dort stopft und bessert sie Kleidung aus. Anders als ihr verbeamteter Vater muss sie nicht in die Partei eintreten. Anschließend leistet sie in Berlin in der optischen Industrie ihren Kriegshilfsdienst. "Als wir da nach einem halben Jahr aufgehört haben, haben wir jeder zur Erinnerung ein Opernglas geschickt bekommen." Doch an schöne Künste ist nicht zu denken, im Gegenteil: Von Berlin aus führt sie ihr Weg nach Liegnitz, einem Stützpunkt der Luftwaffe bei Breslau. Im Auftrag der Wehrmacht sorgen die Frauen für Ordnung auf dem Fliegerhorst. Die strategisch wichtigen Flugzeughallen, in denen damals Kampfgeschwader unterbracht waren, dürfen sie nicht betreten.
Elfriede Berkhahn erkrankt an Diphtherie. Nach überstandener Krankheit soll sie im Büro anfangen. Doch weil sie zu nah am Frontgeschehen wohnt, kommt es nicht mehr dazu. Stattdessen darf sie nach Hause fahren. Im Februar 1945 flüchtet die Familie schließlich vor der herannahenden Roten Armee in Richtung Westen. "Das Zuhause zu verlassen ist mir so schwergefallen", sagt Elfriede Berkhahn in der Rückschau.
Kriegsende - Sehnsucht nach Eltern und Schwestern ist groß
Auf der Flucht wird Elfriede von Eltern und Geschwistern getrennt, sie schlägt sich in ein bayerisches Dorf durch. Sie habe sich durchgebissen, durch die schwere Zeit, in der sie nicht mit den Eltern zusammen gewesen sei. Noch bis April 1945 wird das Dorf von der SS verteidigt, dann von der US-Armee beschossen und schließlich von GIs befreit. Elfriede Berkhahn will nach dem Kriegsende zurück zu ihrer Familie.
Im August macht sich die 21-Jährige mit einer Frau aus Breslau - ohne Hab und Gut - zum Teil auf Güterzügen über Würzburg und Frankfurt in Richtung Norden bis nach Celle auf. Von dort stammt der Mann ihrer ältesten Schwester. "Also allein hätte ich das nicht gemacht und auch nicht geschafft. Aber zu zweit war das wunderbar", sagt Berkhahn heute.
Zu fünft im Doppelbett - "In Celle haben wir gehungert"
Was Elfriede nicht weiß: Auch ihre Eltern sind mittlerweile in Celle - und waren vom Kriegsgeschehen ebenfalls nicht verschont geblieben. Bei einem schweren Angriff im April 1945 wurden sie ausgebombt. Die verlorene Tochter erreicht schließlich den Ort am Südrand der Lüneburger Heide. "Als meine Mutter mich sah, wie abgerissen ich war, da hat sie geweint. Meine Sachen waren ja auch noch zerschossen worden in diesem bayerischen Schulhaus." Auch die folgende Zeit bleibt schwer für die Familie: "Wir haben in zwei zusammengestellten Betten mit vier Erwachsenen und einem Kind geschlafen. In Celle haben wir wirklich gehungert."
Nachkriegsjahre - Putzjob im britischen Offizierskasino
Elfriede Berkhahn muss sich beim Arbeitsamt melden, um Lebensmittel- und Kleiderkarten zu bekommen. "Wenn wir die Punkte verbraucht hatten, dann gab es nichts mehr", beschreibt sie den damaligen Mangel und zieht einen Vergleich zu heute: Die jungen Leute hätten so viele Klamotten. Und sie putzt im britischen Offizierskasino. Es gebe weiß Gott was Schlechteres, als in einer englischen Kneipe sauberzumachen. "Und ich habe es auch geschafft." Obwohl sie ursprünglich andere Pläne hatte. Aber der Krieg hat Elfriedes Berufswunsch platzen lassen: "Ich wollte technische Lehrerin werden, Handarbeit und Sport unterrichten." Aber die höhere Schule sei zu weit weg gewesen, in Niederschlesien. Elfriede Berkhahn hätte auf ein Internat gehen müssen. Doch ihre Mutter interveniert, sie will ihre Tochter in Kriegszeiten nicht von Zuhause wegschicken. "Wir wurden eigentlich um unsere Jugend betrogen, auch schulisch", fällt ihr bitteres Fazit aus. Aber: Die Familie ist wiedervereint, deshalb "waren wir eigentlich zufrieden." Und im Anzeigenbereich der "Celleschen Zeitung" findet die junge Frau schließlich neue Arbeit.
Ende der 40er-Jahre tritt Horst Berkhahn in Leben
Auch privat findet Elfriede in Celle ihr Glück: Im Kino lernt sie ihren Zukünftigen kennen. Der Film, der damals läuft, thematisiert die "bescheidenen Zeiten", symptomatisch für die Nachkriegszeit. Horst Berkhahn stammt aus Stolpe in Pommern, ist wie Elfriede ein Flüchtling. Als er sie nach einem Wiedersehen fragt, antwortet sie: "Das wollen wir mal dem Zufall überlassen." Aber sie habe ja gewusst, dass er angebissen habe, sagt sie schelmisch.
Am 31. März 1950 heiratet das Paar. Beide teilen das gleiche Schicksal und fangen bei Null wieder an: "Wir konnten von den Eltern nichts erwarten, wir hatten noch keinen Besitz", schildert Elfriede Berkahn die Situation. Das erste gemeinsame Zuhause ist eine kleine Wohnung mit Waschschüssel in Ehlershausen bei Hannover-Burgdorf. Dort arbeitet Horst Berkahn als Lehrer. Er bedient nebenbei die Heizung in der Schule. Auf diese Weise sparen die Berkhahns Heizkosten ein.
Schicksalsschlag - Sohn Martin stirbt mit drei Jahren
Sie leben nur von einem Einkommen, da Elfriede Berkahn nach der Heirat aufhört, zu arbeiten und das erste Kind unterwegs ist. Das Schicksal stellt das Ehepaar bald auf eine harte Probe - 1954 stirbt Sohn Martin mit nur dreieinhalb Jahren an den Folgen einer schweren Asthma-Erkrankung. "Da haben wir sehr getrauert", so Elfriede Berkhahn. Der Verlust wiege noch heute schwer.
Doch das Leben muss damals weitergehen: Sie kümmert sich um den Haushalt und zwei weitere Kinder, Sohn Volker und Tochter Martina. Die Familie lebt nicht über ihre Verhältnisse. Sie kaufen sich nur das, was sie sich leisten können. Darin seien sich immer einig gewesen. Ihr erstes Auto ist ein Fiat 500. Da Elfriede Berkhahn wegen fehlender finanzieller Mittel keinen Führerschein machen kann, übernimmt ihr Mann das Steuer.
"Er war schon ein wunderbarer Mensch"
Es geht langsam aufwärts, die Berkhahns kaufen eine Doppelhaushälfte. Und auch seiner Frau gegenüber ist Horst Berkhahn nicht knauserig: Wenn sie sich zwischen zwei Kleidungsstücken nicht entscheiden kann, "nehmen wir alle beide, so seine Einstellung", erzählt Elfriede Berkhahn über ihren Horst. Überhaupt habe sich ihr Mann nie beschwert, weder über den Eintritt in den Ruhestand noch über seine schwere Krankheit.
Acht Jahre lang ist Horst Berkhahn auf die Dialyse angewiesen. Als gläubiger Christ habe er nie nach dem Warum gefragt. "Er war schon ein wunderbarer Mensch, kann man wirklich sagen", schwärmt Elfriede Berkhahn rückblickend. Und muss schmunzeln bei der Erinnerung an seine Art: Noch bevor Horst Berkhahn stirbt, sagt er demnach zu seiner Frau: "Hol' dir bloß keinen fremden Kerl ins Haus, sonst pinkele ich dir von oben in den Schornstein."
Von 116 auf 16 Quadratmeter - Umzug ins Seniorenheim
Mittlerweile lebt Elfriede Berkhahn seit 21 Jahren ohne ihren Horst. Vor einem halben Jahr ist sie in eine Seniorenunterkunft in Ramlingen gezogen, hat sich um 100 Quadratmeter verkleinert. Anfänglich sei ihre das Ankommen im neuen Zuhause schwer gefallen, inzwischen bereite ihr das keine Probleme mehr. Als alteingesessene Ramlingerin kennt sie dort bereits viele Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Und sie hat ihre Familie, die sich sehr um sie kümmert. Mit ihren vier Enkelsöhnen hält sie Kontakt übers Handy. "Die lassen mich alles miterleben. Und ist das nicht herrlich? Was will ich denn mehr? Das ist nicht selbstverständlich", freut sie sich.
"Die 100 muss es gar nicht sein"
Wer Elfriede Berkhahn trifft, nimmt sie als durchweg positiven Menschen wahr - und sie arrangiert sich: Zwar braucht sie ein Hörgerät und ihre Augen machen nicht mehr so gut mit. Dennoch liest sie täglich ihre Zeitung, ihre Kinder haben ihr dafür ein spezielles Lesegerät besorgt. Die 98-Jährige weiß, dass ihr Leben womöglich nicht mehr lange dauert. "99 würde ich gerne werden. Die 100 muss es gar nicht sein."
An ein Leben nach dem Tod glaubt Elfriede Berkhahn nicht. Aber wenn der Tag kommt, dann weiß sie, wo sie hin möchte: auf den Friedhof in Ramlingen zu ihrem Mann Horst - und ihrem Sohn Martin.