Eckhardt Erbguth: Eine Bombe für Hitler im Marschgepäck
Mehrfach entgeht Eckhardt Erbguth in seinen 99 Lebensjahren nur knapp dem Tod. Als Soldat gerät er unwissentlich in einen Attentatsversuch auf Hitler. 40 Jahre nach seiner Flucht aus der DDR findet er zurück in Mecklenburg Erfüllung in der Kunst. Ein Jahrhundertleben.
Als zweites von vier Kindern wird Eckhardt Erbguth am 7. März 1923 in Züsow bei Neukloster in Mecklenburg geboren. Mit seinen Geschwistern wächst er in einem abgelegenen Idyll zwischen Wäldern und Seen auf. 1930 zieht die Familie nach einigen Jahren in Wendisch-Waren bei Goldberg nach Turloff auf einen Forsthof. Der Vater ist Förster und betreut ein großes Revier mit 150 Morgen Land. "Das war für uns eine herrliche Umgebung. Wir konnten machen, was wir wollten, wir mussten nur zum Essen pünktlich sein", erinnert sich Erbguth in der NDR Dokumentation "Ein Jahrhundertleben". Die Kinder spielen meist im Wald oder angeln in einem nahegelegenen See. "Wir hatten unsere Freiheit. Und das erlebe ich heute noch innerlich."
Machtübernahme der Nazis: Zunächst kaum Auswirkungen
Als die Nazis 1933 an die Macht kommen, ist Erbguth zehn Jahre alt. Auf dem abgelegenen Forsthof erreicht die Propaganda die Familie vor allem über das Radio. "Ich kann mich daran erinnern, wie wir vor dieser Kiste saßen und zugehört haben. Aber wir Jungs sind dann bald verduftet." Im Jungvolk, einer Jugendorganisation der Hitlerjugend, genießen die Kinder in erster Linie die Gemeinschaft und toben miteinander. Mit dem nationalsozialistischen Gedankengut setzen sie sich kaum auseinander. "Man hat die Propaganda zur Kenntnis genommen, aber ohne Hintergrundwissen begriff man das alles gar nicht."
Kriegsausbruch beeinflusst Erbguths Berufswahl
Mit 16 Jahren beendet Erbguth die Schule und möchte eigentlich, wie sein Vater, Förster werden. Doch er bekommt zunächst keinen Ausbildungsplatz. Zufällig hört er, dass der Zoll in Rostock Nachwuchskräfte für die gehobene Laufbahn sucht. "Ich wusste damals eigentlich gar nicht, was der Zoll ist", erzählt er. Weil er nicht ein Jahr lang untätig zu Hause sitzen möchte, bewirbt er sich trotzdem. "Ich dachte mir, wenn es mir nicht gefällt, gehe ich im nächsten Jahr zum Forst."
Doch dann bricht der Zweite Weltkrieg aus, Erbguth bleibt beim Zoll und absolviert zwei der eigentlich drei Ausbildungsjahre. 1941 wird der 18-Jährige eingezogen.
Dienst im Führerhauptquartier
Nach seiner Rekrutenzeit in Neuruppin werden er und ein paar andere junge Soldaten ausgewählt und ins Führerhauptquartier "Wolfsschanze" bei Rastenburg in Ostpreußen versetzt. "Erst dort erfuhren wir, dass wir Wachsoldaten des sogenannten Führer-Begleit-Bataillons sein sollten", erzählt er. Die "Wolfsschanze" war ein militärisches Lagezentrum des Führungsstabes der deutschen Wehrmacht. Auch Adolf Hitler hielt sich hier regelmäßig auf. Zu Erbguths Aufgaben gehört es damals, das Führerhauptquartier und Hitler zu schützen. Die persönliche Leibgarde wird von der Waffen-SS gestellt. Obwohl Erbguth als Wachsoldat nicht in Hitlers unmittelbarer Nähe Dienst tut, begegnet er ihm mehrmals persönlich, etwa als er ihn im Führer-Casino bedienen muss.
Unwissentlich Teil eines geplanten Attentats auf Hitler
1944 werden Erbguth und zwei Kollegen ausgewählt, um Hitler eine neue Panzeruniform vorzuführen. Wieder werden die jungen Männer über ihre Aufgabe zunächst im Unklaren gelassen. In Rastenburg müssen sie die Uniformen anprobieren und sich beim Kommandeur melden. Hier stößt Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg dazu. "Wir mussten in sein Zimmer, und er guckte sich die Uniform an, sagte aber nix", erinnert sich Erbguth. Kurz darauf werden sie nach Salzburg geflogen. "Dort sollten wir uns am nächsten Tag ab acht Uhr bereithalten."
"Dressmen der deutschen Wehrmacht"
Für die Präsentation der neuen Uniformen müssen die jungen Männer stramm stehen, berichtet Erbguth. "Ich bekam als Einziger zusätzlich ein schweres Sturmgepäck, einen Rucksack. Ich denke noch, was haste denn da drin", erinnert er sich. In militärischer Haltung und mit klopfenden Herzen warten sie auf den Führer. Erbguth wagt nicht, sich zu rühren und schaut starr geradeaus, als Hitler kommt. Dieser begutachtet die jungen Soldaten, dann ist die Vorführung vorbei.
"Wir haben noch gewitzelt, dass wir die Dressmen der deutschen Wehrmacht sind", erinnert sich Erbguth. Ein paar Jahre nach dem Krieg hört er eine Radiosendung über die geplanten Attentate auf Adolf Hitler. "Ich habe mir das angehört und dachte: Mensch, das warst du ja! Da ist mir erst klar geworden, dass diese Uniformvorführung vermutlich dazu dienen sollte, Hitler in die Luft zu sprengen." Erbguth hatte als Einziger das schwere Sturmgepäck auf dem Rücken. "Ich dachte: Da wärst du in die Luft geflogen."
Erste schwere Verwundung in Litauen
1944 muss der 21-Jährige an die Front nach Litauen. In unübersichtlichem Gelände wird er angeschossen. "Plötzlich sackte ich zusammen, und es spritzte mir Blut ins Gesicht", berichtet Erbguth. Ein Kamerad verbindet ihn notdürftig, übersieht aber, dass nicht nur der Arm verletzt ist, sondern auch die Schlagader am Hals und die Lunge. Erbguth bricht zusammen. "Ich kann mich noch heute erinnern, wie der Tag langsam dunkler wurde um mich." Doch er hat Glück im Unglück: Ein Freund erfährt, dass er schwer verletzt im Feld liegt und sucht ihn. Mit Erfolg, er bringt Erbguth ins Lazarett und rettet ihm so das Leben. Erbguth versucht, so bald wie möglich seinen Retter ausfindig zu machen, um ihm zu danken, aber der Freund ist kurz nach der Rettungstat gefallen. Erbguth schreibt den Eltern seines Freundes in Dresden, will ihnen von der großherzigen Tat ihres Sohnes berichten. Doch der Brief kommt zurück, vermutlich, weil auch die Eltern nicht mehr leben. "Ich konnte mich nicht bedanken", sagt Erbguth. "Das trage ich noch heute mit mir rum."
Zweite schwere Verwundung in Turloff
Erbguth wird schwerstverwundet nach Hause geschickt. Sein Arm hat Nervenschäden davongetragen und bleibt für den Rest seines Lebens nahezu gelähmt. Zu Hause in Turloff päppelt seine Mutter ihn wieder auf. "Ich kriegte morgens eine Stulle Brot und vier Spiegeleier. Darauf habe ich mich immer gefreut", erinnert sich Erbguth lächelnd.
Der Krieg hinterlässt Spuren in der Familie. Noch kurz vor Kriegsende fällt Erbguths großer Bruder. Als die russische Armee Ende Mai 1945 nach Turloff kommt, wird Erbguth erneut schwer verletzt. "Da schoss man mir das rechte Ellbogengelenk durch. Der andere Arm war noch gelähmt, da konnte ich praktisch nichts mehr." Die Wunde heilt, doch der Arm ist steif. Erbguth versucht alles, um ihn wieder beweglich zu machen. "Unter wahnsinnigen Schmerzen habe ich dagegen angearbeitet und ich habe es geschafft", berichtet er.
Steile Karriere beim Zoll
Am 1. Oktober 1945 geht Erbguth zurück zum Zoll. Es sind so viele Kollegen gefallen, dass er sofort eine Planstelle besetzen muss. Seine Ausbildung beendet er nebenher. Als sein Chef sich 1949 nicht zum neuen politischen System im Osten bekennen will und gekündigt wird, wird Erbguth mit 26 Jahren Leiter des Hauptzollamtes Rostock mit 180 Angestellten. Ebenfalls 1949 wird sein erster und einziger Sohn Wilfried geboren. Erbguth hatte 1946 seine damalige Brieffreundin aus der Schule geheiratet.
Konflikt mit dem neuen Regime in Ostdeutschland
1951 kommt ein Vertreter der Personalleitung aus Schwerin zu ihm und macht ihm ein Angebot. Er soll das Finanzwesen von Mecklenburg-Vorpommern aufbauen - und dafür in die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, eintreten. Erbguth lehnt ab. "14 Tage später hatte ich eine fristlose Kündigung auf dem Tisch", erinnert er sich.
Erbguth verklagt seinen Arbeitgeber - und bekommt Recht. Er erhält zwar seinen alten Posten nicht zurück, aber die Verwaltung muss ihn wieder einstellen. In die SED will Erbguth aber auf keinen Fall eintreten, er kann sich mit dem Gedankengut der Partei nicht identifizieren und lehnt den Druck ab, mit dem Russland versucht, die marxistisch-leninistische Partei in Ostdeutschland zu etablieren. "Ich hätte eine Riesenkarriere machen können, aber nicht um diesen Preis."
Bei Nacht und Nebel: Flucht in den Westen
Statt in der SED engagiert sich Erbguth in der LDP, der Liberal-Demokratische Partei Deutschland. Er arbeitet als Verbindungsmann der Ortsgruppe Rostock mit der FDP in Westberlin. Der politischen Führung der jungen DDR ist das ein Dorn im Auge. Als Erbguth hört, dass er verhaftet werden soll, flüchtet er 1953 bei Nacht und Nebel mit seiner Familie in den Westen. Zunächst kommt die Familie bei seinen Eltern unter, die schon kurz nach dem Krieg nach Niedersachsen geflüchtet waren. Auch in Westdeutschland bewirbt Erbguth sich beim Zoll. Nach langer Suche erhält er ein Angebot in Münster. Obwohl er in Rostock zur Direktion gehörte, soll er seine Ausbildung wiederholen und die Prüfung ein zweites Mal ablegen. Er ist frustriert. Immerhin: Ein Jahr der Ausbildung wird ihm schließlich aufgrund seiner Vorkenntnisse erlassen.
Erbguth arbeitet hart, nimmt viele Sonderaufgaben an und macht erneut Karriere. 1980 wird er Zolloberamtsrat. "Mir ist nichts geschenkt worden. Ich habe hart für alles gearbeitet," berichtet er. Unter anderem schult er Grenzbeamte zur Terrorismusbekämpfung. Es ist die Zeit der Baader-Meinhof-Gruppe. "Ein sehr heikles Thema", erinnert sich Erbguth.
Ruhestand und Reise durch Europa
Im April 1988 geht Erbguth mit 65 Jahren in den Ruhestand. Er kauft sich einen Wohnwagen und tourt damit allein durch Europa, "um ganz andere Welten zu sehen". 30.000 Kilometer legt er zurück, sieht zum Beispiel Norwegen, Schweden, Italien und England. "Man konnte bleiben, wo man wollte, zog weiter, wenn es mal regnete. Das war eine herrliche Zeit", erinnert er sich.
Mit im Gepäck: Staffelei und Farbe, denn Erbguth hatte bereits acht Jahre zuvor eine Leidenschaft entdeckt, die ihn seitdem begleitet. Schon als junger Mann zeichnet und malt er, doch erst mit 50 findet er ganz zur Kunst.
Vom Zollbeamten zum Bildhauer
Anlass ist seine damalige Frau. Sie möchte 1980 eine Skulptur kaufen und Erbguth fährt in eine Galerie, um sich die teuren Stücke anzuschauen. 'So etwas kann ich auch', denkt er und schnitzt seine erste Skulptur. Um mehr zu lernen, besucht er eine Kunstakademie. Mit Erfolg und Spaß. "Ich habe danach jedes Jahr meinen Sommerurlaub geopfert, um sechs Wochen lang die Akademie zu besuchen", berichtet Erbguth. So lernt er die Grundlagen der Malerei und der Bildhauerei.
"Das ist alles in meinem Kopf"
"Ich brauche keine Zeichnung, das ist alles in meinem Kopf", erzählt er. An die 220 Bronzeplastiken und 200 Gemälde erschafft er im Laufe der Jahre. Heute finden sich einige seiner Werke auch im öffentlichen Raum, wie zum Beispiel die Kranich-Gruppe im Gutspark Wamckow oder die Handglockenspielerin vor der Kirche in Dabel in Mecklenburg-Vorpommern.
Nach 40 Jahren zurück nach Mecklenburg
Als 1989 die Mauer fällt, kann Erbguth endlich in sein geliebtes Mecklenburg fahren und Freunde und Bekannte wiedersehen. Über die Wiedervereinigung sagt er: "Gott sei Dank, dass das passiert ist!" Als Erbguth 1993 mit seinem Wohnwagen erneut nach Mecklenburg fährt, möchte er bleiben. Seine Ehe ist am Ende, der 70-Jährige will zurück in seine alte Heimat. "Ich habe hier meine Jugendzeit verbracht, das zieht irgendwie", erklärt er.
Dank alter Schulfreunde findet er in Dabel, nur wenige Kilometer von seinem Elternhaus in Turloff entfernt, ein Haus. Die frühere Tischlerei ist groß genug, um Erbguths Traum zu verwirklichen. Hier möchte er nicht nur leben, sondern auch ein eigenes Atelier und eine Galerie einrichten.
Erfüllung in der Kunst und Glück in der Liebe
Im Januar 1995 stößt Erbguth in Schwerin fast mit einer Radfahrerin zusammen. Als Entschuldigung lädt sie ihn auf einen Kaffee ein. Susanne Priesemann ist Krankenschwester und 20 Jahre jünger als Erbguth, sie verstehen sich auf Anhieb. Am 15. Dezember 2007 heiratet das Paar im Güstrower Dom. Zusammen bereisen sie Europa, so lange ihre Kräfte es zulassen. Auch jetzt setzen sie sich immer noch gern sonntags für einen Ausflug ins Auto und genießen ihr Mecklenburg.
Auch im Alter noch in Bewegung bleiben
Erbguth ist es wichtig, auch im Alter aktiv zu sein. "Der Mensch muss in Bewegung bleiben, geistig und körperlich." Bis heute gibt er sein Wissen in Malkursen in seiner Galerie an Interessierte weiter. Seine Schüler schätzen ihn sehr: "Seine Hand ist immer noch sicher und er kann uns immer noch so viel beibringen", berichtet etwa Renate Fritz, die schon seit Jahren Kurse bei Erbguth belegt.
In der Rückschau zufrieden
Im Rückblick auf sein Leben sagt Erbguth: "Ich habe einiges hinter mir, aber wenn ich die Endabrechnung mache, bin ich zufrieden." So lange er kann, möchte er sein Wissen als Bildhauer weitergeben. Und er hofft, dass er noch möglichst lange zusammen mit seiner Frau im gemeinsamen Zuhause in Mecklenburg leben kann.