Interview mit NS-Verbrecher: "Ich bereue nichts!"
Die Nacht vom 1. auf den 2. April 1944 veränderte das kleine nordfranzösische Dorf Ascq (bei Lille) für immer. Die französische Résistance verübte damals einen Anschlag auf einen deutschen Armeezug. Doch dieser war kein Versorgungszug, sondern voll mit 400 Männern der Waffen-SS, die von Belgien in die Normandie verlegt werden sollten. Bei dem Attentat waren lediglich ein paar Güterwaggons entgleist, verletzt wurde jedoch niemand, laut Bericht waren lediglich Materialschäden zu beklagen.
Doch die SS-Männer der 12. SS-Panzerdivision "Hitlerjugend" übten trotzdem blutige "Vergeltung". Die jungen Soldaten der Einheit wurden aus der HJ rekrutiert und verliehen ihr daher auch ihren Namen. Die Offiziere kamen dagegen aus der Elitetruppe der 1. SS-Panzer-Division "Leibstandarte SS Adolf Hitler". Zu ihnen gehörte Unterscharführer Karl M., der mit seinen damals 21 Jahren und seiner Ostfronterfahrung schon als alter Hase unter den Männern galt, von denen die allermeisten 19 und jünger waren. Ihr Durchschnittsalter hinderte die Truppe allerdings nicht daran, in dem kleinen Ort zu wüten.
Der Vater kam nie mehr wieder
Rolande Bonte (geb. Couque) war damals zehn Jahre alt, heute ist sie 85. "Ich schlief bereits in unserem Kinderzimmer, da hörte ich plötzlich Lärm von der Treppe her", erzählt sie und zeigt mit der Hand zum Treppenhaus. Sie wohnt noch immer im Haus ihrer Eltern, das in der Straße am Bahnhof steht, direkt gegenüber den Gleisen. Die Deutschen nehmen ihren Vater mit, den damals 31-jährigen Eisenbahner Clovis Couque. Sie hat ihn nie wiedergesehen. Die SS-Männer trieben ihn und Dutzende andere Dorfbewohner zum Bahnhof - allesamt unbewaffnete Zivilisten, zwischen 15 und 75 Jahre alt. Am Ende wurden 86 Menschen ermordet, unter ihnen der Vater von Rolande Bonte.
Sogar die Wehrmacht war entsetzt
Laut dem Historiker Jens Westermeier, der das Massaker untersucht hat, wurden die Aufgegriffenen an den Gleisen mit Taschenlampen angestrahlt und erschossen, wer sich noch regte, erhielt aus kurzer Distanz einen Kopfschuss. Insgesamt zogen die SS-Mörder mindestens vier Mal durch die Ortschaft - und erschossen auch auf der Straße wahllos Männer. Eine Streife der deutschen Feldgendarmerie beendete schließlich das Treiben, das selbst der Wehrmacht zu bestialisch erschien.
Lügen und Legenden
Im Interview mit Panorama behauptet Karl M., dass er selbst niemanden erschossen habe, sondern nur für die Festnahme der Franzosen zuständig gewesen wäre. Die Erschießungen betrachtet er allerdings als rechtens und begründet dies mit einem angeblichen Fluchtversuch: "Wenn ich die Männer arrestiere, dann habe ich die Verantwortung für sie. Und wenn sie weglaufen, habe ich das Recht auf sie zu schießen."
Um diese Ausrede war die SS schon unmittelbar nach dem Massaker nicht verlegen. Sie gleicht bis in den Wortlaut der Legende, die ein Kommandant von M.'s Truppe, der SS-Obersturmbannführer und Generalstabsoffizier Hubert Meyer, schon in seinen Memoiren zum besten gab: "Bei dieser Suchaktion wurde niemand verletzt oder getötet. Als einige der Festgenommenen zu fliehen versuchten, wurde von der Wache das Feuer eröffnet."
Historiker, französische Zeitzeugen und die Justiz sind dagegen sicher: Es handelte sich um eine der verbrecherischen Vergeltungsaktionen, für die diese Einheit der Waffen-SS berüchtigt war. Bis Kriegsende verübte sie in Nordfrankreich zahlreiche weitere Gräueltaten.
Keine Strafverfolgung mehr möglich
Die deutschen Behörden hatten erst 2015 angefangen, gegen Karl M. zu ermitteln, wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle stellte das Verfahren im März 2018 jedoch ein. Laut der Staatsanwaltschaft dürfe "niemand wegen derselben Tat zweimal bestraft werden". Dieser Grundsatz gelte im Schengen-Raum der EU auch dann, "wenn ein Beschuldigter in Frankreich verurteilt worden ist und dieses Urteil nach dem Recht des Urteilsstaates, also dem französischen Recht nicht mehr vollstreckt werden kann".
Karl M. war 1949 wegen seiner Beteiligung am Massaker von Ascq in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Die Strafe wurde jedoch nie vollstreckt - und ist in Frankreich mittlerweile verjährt. Damit kann M. laut der Behörde auch in Deutschland nicht erneut angeklagt werden. Karl M. saß wegen des Massakers also bis heute keinen Tag im Gefängnis.
Held in Neonazi-Kreisen
Sein Weltbild von damals scheint sich M., der freiwillig zur Waffen-SS gegangen war, bewahrt zu haben: Bis heute glaubt er nicht daran, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hat und leugnet NS-Verbrechen. Den Holocaust hat es aus seiner Sicht so nicht gegeben. Auf die Millionen ermordeter Juden angesprochen, sagt M.: "So viele Juden hat's damals gar nicht gegeben bei uns. Das hat man jetzt schon widerlegt. Ich habe letztens irgendwo gelesen, dass diese Zahl gar nicht stimmt, die da rausgegeben wird. Ich glaub' das alles nicht mehr."
Der heute 96-Jährige trat kürzlich vor Neonazi-Publikum als "Zeitzeuge" auf und wird dort als Vorbild verehrt. Nach Panorama-Recherchen trat Karl M. Anfang November bei NPD-Bundesvize Thorsten Heise im thüringischen Freterrode auf, bei einem "Zeitzeugenvortrag". Vor rund 100 Rechtsextremisten sprach M. über seine Erlebnisse bei der Waffen-SS. Dutzende Fotos von sich habe er dort für die Zuhörer signieren müssen, erzählt der 96-Jährige im Panorama-Interview. Für die rechte Szene ist M. ein Held. Nahezu täglich bekomme er nun Post mit Autogrammwünschen.
Die Angehörigen der Mordopfer von Ascq sind darüber schockiert, dass Karl M. in Deutschland frei herumläuft, nicht mehr belangt werden kann - und sogar von Rechtsextremisten verehrt wird. Rolande Bonte sagt im Gespräch mit Panorama: "Ich verstehe nicht, dass man solche Leute gut finden oder verteidigen kann. Der SS-Mann wird sich nicht mehr ändern. Aber man muss dafür sorgen, dass er keine anderen mit seinen Ideen ansteckt. Damit sich so etwas nie mehr wiederholt."