Die Zitronenjette - ein Hamburger Original
"Zitroon, Zitroon, frische Zitroon!" - mit diesem Ausruf warb die Zitronenjette gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Straßen der Hamburger Neustadt und St. Paulis für ihre Ware. Am 8. Juli 1916 starb die Straßenverkäuferin im Alter von 74 Jahren. Heute gilt sie neben dem Wasserträger Hummel als eines der bekanntesten Hamburger Originale. Dabei verlief ihr Leben alles andere als glanzvoll.
Schon als Kind als fliegende Händlerin unterwegs
Johanne Henriette Marie Müller, so ihr bürgerlicher Name, wird am 18. Juli 1841 in Dessau unehelich geboren. Als ihre Mutter mit ihr nach Hamburg zieht, um dort zu heiraten, ist sie nur wenige Monate alt. Die Familie lebt in einem der ärmlichen Gängeviertel, schon als Kind muss Henriette zum Lebensunterhalt beitragen. Als Dreizehnjährige ist sie bereits mit einem Korb voller Zitronen als fliegende Händlerin unterwegs. Die Früchte kauft sie den Matrosen auf den Schiffen am Hafen ab.
Zielscheibe von Spott und Hänseleien
Die nur 130 Zentimeter große und 35 Kilo leichte Frau - heute würde sie als kleinwüchsig gelten - fällt im Straßenbild auf: Sie ist nicht nur klein, sondern mit ihrem für damalige Zeiten recht kurzen Rock und einer blauen Schürze auch ungewöhnlich gekleidet. Häufig ist sie Zielscheibe von Spott, auf der Straße laufen ihr die Kinder oft grölend hinterher. Viele Kunden nutzen zudem die mangelhaften Rechenkenntnisse der Zitronenjette aus und hauen sie beim Kauf übers Ohr.
Abends führen ihre Verkaufstouren die Straßenhändlerin auch in die Kneipen rund um Reeperbahn und Neustadt. Dort macht sich so mancher Gast einen Spaß daraus, ihr einen Schnaps zu spendieren, den die Zitronenjette unter den anfeuernden Rufen der Kneipenbesucher in einem Zug leert. Zum Dank gibt sie schon mal ein derbes Liedchen zum Besten. Dass sich viele Menschen über sie lustig machen, scheint sie nicht zu bemerken.
Mehr als 20 Jahre in der "Irrenanstalt"
Der viele Schnaps führt schließlich dazu, dass die Straßenhändlerin alkoholkrank wird. 1894 liest sie die Polizei auf der Straße auf. Sie wird entmündigt und mit der Diagnose "Trunkenheit" und "Schwachsinn" in die "Irrenanstalt Friedrichsberg" in Barmbek gebracht. Dort bleibt Johanne Henriette Müller bis zu ihrem Tod und ist in der Küche beschäftigt, wo sie Kartoffeln schält und Gemüse putzt.
Zitronenjette wird zur Theaterfigur
Noch zu Lebzeiten erlangt die Zitronenjette regionale Berühmtheit als Hauptfigur in einer volkstümlichen Posse. Es wird erstmals im Jahr 1900 im Ernst-Drucker-Theater, dem heutigen St. Pauli-Theater, aufgeführt. Ein feinfühligeres Bühnenwerk über ihr Leben schreibt Paul Möhring in den 1920er-Jahren, es wird im selben Theater gezeigt. Traditionell spielt ein Mann die weibliche Hauptrolle, als einzige Frau übernimmt ab 1955 Christa Siems den Part. In den Siebzigerjahren ist Henry Vahl als Zitronenjette erfolgreich.
Denkmal erinnert an das Hamburger Original
Seit 1986 erinnert ein Bronzedenkmal an der Ludwig-Erhard-Straße an die Zitronenjette. Es steht ganz in der Nähe von Michel und Krameramtsstuben - also dort, wo sie damals unterwegs war, um ihre Früchte zu verkaufen. Im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof, auf dem sich einst ihr Grab befand, ist ihr zudem ein Gedenkstein gewidmet. Ihr ursprüngliches Grab wurde bereits vor Jahrzehnten geräumt.
"Dien Leben wer suur as de Zitroonen, sall sick dat Erinnern an di lohnen? Dien Schiksol wiest op all de Lüüd, for de dat Glück het gor keen Tiet" (Dein Leben war sauer wie die Zitronen, soll sich das Erinnern an dich lohnen? Dein Schicksal weist auf all die Leute, für die das Glück gar keine Zeit hat). Mit diesen Worten beschreibt eine Tafel, die unter dem Bronzedenkmal angebracht ist, das Leben von Johanne Henriette Müller. Die vorgestreckten Finger der Bronzefigur sind ganz blankpoliert, denn viele Menschen haben sie angefasst. Der Zitronenjette die Hand zu reichen, soll nämlich Glück bringen - etwas, das der echten Zitronenjette zeitlebens verwehrt war.