Stand: 11.08.2009 17:04 Uhr

Kerzen als Waffe gegen die Stasi

von Kai Voigtländer und Eva Storrer

"Mehr Tempo für eine stabile Versorgung mit Waren aus dem Bezirk", titelt die Neubrandenburger Bezirkszeitung "Freie Erde" im Mai 1989. Und im Juli vermeldet sie: "150.000 Hosen und 10.000 Sakkos über dem Plan. Worüber man in den Altentreptower Schneiderstuben in diesen Tagen diskutiert." Liest man das offizielle Parteiorgan, dann ist in der DDR im Jahr 1989 alles in Ordnung. Dabei brodelt es bereits an vielen Orten - auch im Bezirk Neubrandenburg.

Unmut in Neubrandenburg

Der Neubrandenburger Hans-Jürgen Schulz. © picture-alliance / ZB Foto: Jens Kalaene
Hans-Jürgen Schulz ist mit der Lage in der DDR unzufrieden und schließt sich der Bürgerbewegung an.

In der Kleinstadt Neubrandenburg, die im gleichnamigen Bezirk liegt, mehren sich im Laufe des Jahres 1989 die Stimmen derer, die die DDR-Verhältnisse nicht mehr hinnehmen wollen. Auch der Handwerker Hans-Jürgen Schulz erhebt seine Stimme. Er hat eine gesicherte Position, ein gutes Einkommen - dennoch ist er unzufrieden. Ähnlich ergeht es dem evangelischen Pastor Ulli von Saß. Die Mangelwirtschaft ist in seiner Gemeinde ein tägliches Thema. "Das wirtschaftliche Ende der DDR war, denke ich, recht deutlich zu spüren", erinnert er sich an diese Zeit. Hans-Jürgen Schulz, Ulli von Saß und weitere Neubrandenburger Bürger - sie alle haben ihre Gründe, die Verhältnisse in der DDR zu kritisieren. Im Herbst 1989 tun sie sich zusammen.

Die Opposition ist nicht mehr "liquidierbar"

In den Sommermonaten 1989 verschärfen sich die Verhältnisse: Tausende DDR-Bürger flüchten in den Westen. Der SED-Apparat gerät ins Wanken - nur das System der Überwachung läuft reibungslos weiter. Täglich laufen die Berichte der Inoffiziellen Mitarbeiter (IMs) ein. Täglich notieren die Offiziere Parteiaustritte und kritische Diskussionen. Und sie registrieren, "dass sich oppositionelle Bestrebungen so entwickelt haben, dass sie nicht mehr ohne Weiteres liquidiert werden können." Bei einigen Offizieren der Staatssicherheit hat der Wandel in der Sowjetunion auch für Nachdenklichkeit gesorgt - zum Beispiel bei Werner Müller. In der Neubrandenburger Bezirksverwaltung ist er zuständig für die "politische Untergrundtätigkeit". In seinem Arbeitszimmer hängt kein Bild von Honecker, sondern von Gorbatschow, was in seiner Abteilung für Ärger sorgt.

Kerzen als Waffe

Während es selbst im Inneren der Staatssicherheit rumort, beginnen die Oppositionellen in Neubrandenburg, sich zu organisieren. Bereits seit 1988 trifft sich in der Innenstadt ein Friedenskreis, der Gesprächskreise veranstaltet und Petitionen verfasst. Doch irgendwann spüren die Teilnehmer, dass diese Mittel nicht mehr reichen. Die Kerze wird, als Zeichen der Hoffnung, zu ihrer wichtigsten Waffe. Die Oppositionellen der Stadt verabreden, am 6. Oktober Kerzen in die Fenster zu stellen. Auch Hans-Jürgen Schulz ist dabei, doch zunächst ist er unsicher - vorsichtig schaut er an jenem Abend nach links und rechts, bis er die Kerze ins Fenster stellt. Kurz darauf sieht er überall Kerzen. "Die Stasi glaubte, sie sei auf alles vorbereitet. Mit Kerzen hatte sie nicht gerechnet", erzählt er.

Erster öffentlicher Protest

Am 18. Oktober lädt der Friedenskreis zum Friedensgebet in die Johanniskirche ein. Die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt. Lautsprecher übertragen das Gebet auf den Kirchplatz, auf dem sich immer mehr Menschen versammeln. Sie singen, hören Gebete und eine Ansprache von Ulli von Saß. Im Anschluss ruft dieser die Zuhörer zu einem Schweigemarsch durch die Innenstadt auf. Schweigend marschieren mehrere Tausend Menschen durch die Dunkelheit.

Die Atmosphäre ist angespannt - noch nie hatten sich Bürger in Neubrandenburg so weit vorgewagt. Werner Müller ist an diesem Tag der zuständige Einsatzleiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Er sitzt in der Leitstelle am Marktplatz und sieht das Volk an sich vorüberziehen. "Den Abend werde ich in meinem Leben nie vergessen. Das war die nackte Angst, dass das da eskaliert", sagt er. Doch alles verläuft friedlich.

Am 25. Oktober gehen bereits mehr als 20.000 Menschen in Neubrandenburg auf die Straße. Und jetzt wollen sie nicht mehr Schweigen: Zum Abschluss der Demo gibt es eine Kundgebung auf dem Marktplatz. Vertreter der Kirchengemeinden und der Bürgerbewegung halten Reden. Auch Johannes Chemnitzer, der Erste Sekretär des Bezirks, will zum Volk sprechen - doch er wird ausgepfiffen. Kühl notierten die Neubrandenburger Stasi-Offiziere: "Unglücklicher Auftritt des Genossen Chemnitzer. Die Genossen haben den Ernst der Lage nicht begriffen."

Stadtansicht von Neubrandenburg © dpa
AUDIO: Demo in Neubrandenburg (30 Min)

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 18.10.2004 | 20:15 Uhr

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