Sendedatum: 09.11.2011 18:00 Uhr

Wo die Wende nicht stattfand: In U-Haft bei der Stasi

von Nils Zurawski
May-Britt Krüger mit Eltern, undatiert 1980er Jahre © May-Britt Krüger
May-Britt Krüger mit ihren Eltern Mitte der 80er-Jahre. Die Familie wurde von der Stasi Tag und Nacht bespitzelt.

Als die schwere Zellentür sich öffnet, steht May-Britt Krüger bereits mit dem Gesicht zur Wand und wartet auf Anweisungen. Immer wieder ist es derselbe Wortlaut: "Bett 1!", sagt eine Stimme mit dem scharfen Ton eines Gefängniswärters: "Kommen Sie!"

Wie oft sie diesen Befehl hörte, hat Krüger nie gezählt. Die damals 22-Jährige kam am 10. August 1989 in Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit in Rostock. "Bett 1" und später "Bett 2" war dort ihr Name - eine Bezeichnung ohne jede menschliche Anmutung. Zusammen mit ihrem Vater und einem befreundeten Paar war sie am Tag zuvor von Sicherheitskräften der DDR auf dem Weg nach Ungarn bereits kurz hinter Rostock festgenommen worden. Der Vorwurf lautete Republikflucht und Bandenbildung. Außerdem hätte sie das Fluchtfahrzeug gestellt und sei somit "Mitwisserin" gewesen.

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Demonstration in Rostock 1989 © Roland Hartig Foto: Roland Hartig

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Im Visier der Stasi

"Noch als ich in die U-Haft gebracht wurde, glaubte ich, dass nur mein Vater verhaftet würde. Im Leben habe ich nicht daran gedacht, dass ich selbst die nächsten Monate hier sitzen sollte", erzählt May-Britt Krüger Jahre später. Für die junge Frau war es ein Schock, auch wenn es sie nicht völlig überraschte. Bereits in den 1970er-Jahren hatte ihr Vater einen Ausreiseantrag gestellt und geriet daraufhin in den Fokus des DDR-Geheimdienstes. May-Britt Krüger erinnert sich an die teilweise kaum verdeckten Bespitzelungen durch die Stasi.

Erst aus ihren Stasi-Akten erfuhr sie nach der Wende, dass auch die elterliche Wohnung verwanzt war und nahezu alles aufgenommen wurde, was dort stattfand - auch banale Ereignisse wie das gemeinsame Kuchenbacken mit ihrer Mutter.

Alltag zwischen Zelle und Verhörraum

Zellentrakt, Gedenkstätte Stasi Untersuchungsgefängnis, Rostock © NDR Foto: Nils Zurawski
Zellentrakt im Rostocker Stasi-Untersuchungsgefängnis. Hier musste May-Britt Krüger zahlreiche zermürbende Verhöre über sich ergehen lassen.

Während ihrer Haftzeit im Stasi-Untersuchungsgefängnis an der Augustenstraße, einem versteckten Gebäude im Innenhof der Rostocker Zentrale der Staatssicherheit, gab es für May-Britt Krüger nur das Leben hinter den Mauern. Was außerhalb stattfand, bekam sie nicht mehr mit. Der Alltag bestand aus dem Aufenthalt in den kleinen Zellen, zumeist mit einer anderen, später auch mit bis zu sechs Frauen, sowie den insgesamt 24 Verhören, in denen sie in den zweieinhalb Monaten Haft ihre geplante Republikflucht zugeben sollte. Ob sie tatsächlich über Ungarn in den Westen gegangen wäre, kann sie heute nicht genau sagen - und damals, so sagt sie heute, war sie so weit ja überhaupt nicht gekommen.

Dennoch wurden ihr in den zermürbenden Verhören, mit den immer gleichen Fragen, die immer wieder gleichen Anklagen vorgelegt, nur der Tonfall der Untersuchungsführer änderte sich - der erste brüllte, der sei ein "Schmierlappen" gewesen, erinnert sie sich. Sie nahm sich vor, dagegenzuhalten und nicht auf die Angebote und Drohungen einzugehen. So habe sie auch zu keinem Zeitpunkt zugegeben, dass sie flüchten wollte, berichtet Krüger, habe sich später in der Haft auf Rat ihres Anwaltes alle Protokolle vorlegen lassen und diese immer wieder korrigiert und angezweifelt.

Abgeschnitten von der Außenwelt

Gitter zwischen den Stockwerken, Gedenkstätte Stasi Untersuchungsgefängnis, Rostock © NDR Foto: Nils Zurawski
Gitter trennen die einzelnen Stockwerke der U-Haft-Anstalt.

Von der Dynamik der Ereignisse, die in der DDR stattfanden, merkte sie nichts. Auch von anderen Häftlingen wusste sie - mit Ausnahme der Zellengenossinnen - wenig. Die Verständigung war fast vollständig untersagt, das Personal verhinderte den Kontakt untereinander. Der Alltag im Gefängnis war streng geregelt: Einmal in der Woche gab es frische Unterwäsche, alles andere einmal im Monat. Ein Besuch pro Monat war erlaubt, allerdings nicht regelmäßig, sondern nach Belieben der Haftleitung, und auch das Briefeschreiben war streng reglementiert. Pro Tag gab es dazu 15 Minuten "Hofgang" in einem Außenkäfig, kaum größer als als 20 Quadratmeter. 

Im Oktober 1989 fiel den Insassen auf, dass die Zellen deutlich stärker belegt waren als zuvor. Von draußen drangen Demonstrationsrufe zu May-Britt Krüger durch: "Stasi in die Produktion" und "Wir sind das Volk" skandierten die Menschen auf der Straße. Da wurde ihr bewusst, dass etwas passiert sein musste. Allerdings fiel es ihr schwer zu glauben, was sie hörte. Die Angst, dass doch noch etwas passieren würde, die Stasi einschreiten könnte und sie im Gefängnis dann hilflos wäre, war immer da.

Einen "Knacks" habe sie bis heute davonbehalten, sagt May-Britt Krüger. Geschlossene Räume, wie in Flugzeugen oder Fahrstühlen, bereiten ihr Unwohlsein. Und es hat lange gedauert, bis sie überhaupt über ihre Erlebnisse und die Zeit in der Haft offen sprechen konnte. Vieles war ihr peinlich, und sie selbst war am Anfang zu beschäftigt mit all den Geschehnissen.

Die unbekannten Anderen

Hartmut Kaesewurm, Aufnahme aus der Haft in Rostock © Hartmut Kaesewurm
Aus der Häftlingskartei Rostock: Hartmut Kaesewurm.

Anfang August 1989, nur ein paar Gefängniszellen weiter: Als May-Britt Krüger in Untersuchungshaft kam, war Hartmut Kaesewurm dort bereits seit 14 Monaten den Verhören und Schikanen der Stasi-Mitarbeiter ausgesetzt. In der Haft war der heute 65-Jährige "Bett 2". Er sei fast ausnahmslos allein auf der Zelle gewesen, von anderen Häftlingen und von seiner Außenwelt habe er nichts mitbekommen, betont Kaesewurm - insbesondere nichts von den Entwicklungen in der DDR, von den Ausreisen, von Ungarn oder den Demonstrationen. "Verbrecherische Veruntreuung von Volkseigentum" lautete der Vorwurf, der später zu seiner Verurteilung führte.

Hartmut Kaesewurm war im Außenhandel der DDR tätig, der gelernte Seeverkehrswirt wickelte im Rostocker Hafen den Außenhandel im Bereich der Bauwirtschaft ab. Nach dem Fall der DDR nahm er Einblick in seine Stasi-Akte. Dabei wurde klar: Er war seit 1972 im Visier der Stasi, im Rahmen einer sogenannten OPK "Operative Personenkontrolle".  Bei einer OPK stand für die Stasi bereits fest, dass es sich um einen Feind des Staates handelte. Es ging vor allem darum, den Wirkungskreis dieses Gegners schnellstmöglich einzuschränken und Ansatzpunkte für eine "operative Bearbeitung" zu finden, die zu einem Verfahren und Verurteilung führen konnten.

Insgesamt waren 24 Informelle Mitarbeiter auf ihn angesetzt, auch Personen aus seinem Freundes- und Verwandtschaftskreis - im Nachhinein eine schmerzvolle Erfahrung für Hartmut Kaesewurm. Wer diese Personen sind, darüber möchte er heute lieber nicht mehr sprechen.

Ein Non-Konformist im Anpassungsstaat

Er wurde am 23. April 1988 auf dem Weg zur Arbeit auf offener Straße von der Stasi verhaftet und in die Untersuchungshaft gebracht. Kaesewurm hatte sich vom ersten Moment an vorgenommen, auf jeden Fall "gegenzuhalten und nicht zu Kreuze zu kriechen". Diese Haltung sowie seine Einstellungen zu bestimmten Dingen ließen ihn in den Augen der Stasi als "frechen Hund" erscheinen. Man würde sich nicht "länger mit anschauen, dass bei ihm zu Hause Ausländer und Antragsteller sich die Klinke in die Hand geben", bekam Hartmut Kaesewurm als Antwort auf seine Frage nach dem Haftgrund von der Stasi zu hören. Für ihn bestätigte das heute und auch damals schon, dass es der Stasi allein darum ging, ihn kleinzukriegen, weil er ein Leben abseits des Normbildes eines DDR-Bürgers führte. Etwas Konkretes hatten sie ihm nicht vorzuwerfen.

Eingang zur Gedenkstätte Stasi Untersuchungsgefängnis, Rostock © NDR Foto: Nils Zurawski
Der Eingang zum früheren Untersuchungsgefängnis in Rostock, in dem sich heute eine Gedenkestätte befindet.

Es waren vor allem sein "Lebenswandel", seine, auch durch den Beruf ermöglichten, vielfältigen ausländischen Kontakte und Freundschaften, die offenbar störten. Auch der Umstand, dass seine Frau Ausreisewilligen half, machten ihn zu einer unliebsamen Person. Kaesewurm war nicht Mitglied der SED und verweigerte sich auch sonst den üblichen Anpassungszwängen des DDR-Staates. Das allein schien auszureichen für die Untersuchungshaft, die Verhöre und eine spätere Verurteilung zu vier Jahren Gefängnis - ohne Verhandlung. Beweise oder auch nur eine konkrete Tat waren dazu nicht nötig.

Vergangenheit und Aufklärung

May-Britt Krüger konnte die U-Haft am 31. Oktober 1989 im Rahmen der Amnestie  für Republikfüchtlinge verlassen, Hartmut Kasewurm wurde bereits am 27. September 1989 in die "normale" Haft nach Cottbus überstellt, erst im Dezember 1989 kam er endgültig frei. May-Britt Krüger ging nach Düsseldorf, Hartmut Kasewurm nach Hamburg. Er kehrte erst nach der Wiedervereinigung und dem Ende der DDR wieder nach Rostock zurück. Krüger vermisste am Rhein schnell die Ostsee und den Norden und lebt ebenfalls seit Jahren wieder in ihrer Heimat.

Beide sehen in der Willkür der Stasi das eigentliche Verbrechen, das ihnen widerfahren ist. So wurden sie beide ohne Verfahren verurteilt. Während ihrer Haft, so sagen sie übereinstimmend, ging es nicht um die Wahrheit, um eine konkrete Anklage, sondern vor allem darum, sie als Menschen zu brechen. Dazu war den Stasi-Leuten fast jedes Mittel recht.

Damit ihre und auch die Geschichte der DDR als Willkür-Staat auch heute nicht in Vergessenheit gerät und die vielen Opfer eine Stimme haben, engagieren sich May-Britt Krüger und Hartmut Kaesewurm für eine Aufklärung und die damit verbundenen Aspekte der DDR-Geschichte. Sie stehen als Zeitzeugen Journalisten und Wissenschaftlern zur Verfügung, arbeiten in Opferverbänden sowie der Dokumentations- und Gedenkstätte der Stasi U-Haft in Rostock. May-Britt Krüger macht dort Führungen und erzählt den Besuchern ihre Geschichte.

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Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin - Land und Leute | 09.11.2011 | 18:00 Uhr

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Mauerfall, Wende und Deutsche Einheit

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