Flucht aus Rostock - letzte Ausfahrt Ungarn
Von Rostock in die Freiheit: Im Oktober 1989 fahren Carola Schatz und Wilfried Gutacker mit ihrem Trabi los - über die CSSR, Ungarn und Österreich nach Passau. Das Protokoll ihrer denkwürdigen Pannenfahrt.
Am 19. August 1989 steht der Eiserne Vorhang einen Spalt breit offen: Ungarn öffnet bei Sopron das Grenztor zu Österreich - für drei Stunden. Was als grenzüberschreitendes Friedenspicknick beginnt, endet mit der Flucht von knapp 700 DDR-Bürgern. Auch wenn geflohene Ostdeutsche aus der deutschen Botschaft in Prag nach Westen ausreisen dürfen, ist die Gesamtlage in der DDR weiter sehr instabil. Dort werden die Proteste gegen das Regime immer lauter. "Wir sind das Volk!" rufen Tausende. Aber die Unsicherheit ist groß. Carola Schatz und Wilfried Gutacker fahren dennoch mit ihrem Trabi los.
6. Oktober 1989
Die Taschen sind gepackt, das Auto präpariert. Wille hat unsere Papiere in den Trabisitzen eingeschweißt. Unseren neuen Farbfernseher bringen wir zu Gitti. Man stelle sich vor: Wir planten unsere Flucht und kauften zeitgleich einen sauteuren Fernseher. Taktik! Bisher weiß keiner in der Familie, was wir vorhaben.
7. Oktober 1989, 6 Uhr
Entweder sind wir heute Abend über die Grenze oder im Knast! Äußerlich bin ich ziemlich ruhig, doch beim Baby ist Leben in der Bude. Bin Anfang 7. Monat. Wille fährt total gesittet: Risiko vermeiden. Mist: Keilriemen gerissen! Wille hat Ersatzteile dabei. Am Grenzübergang zur Tschechoslowakei: kein Massenandrang. Papier- und Gepäckkontrolle. Ich habe vor lauter Angst Senkwehen. Nach einer Weile dürfen wir weiterfahren. Fahrzeugkontrolle! Ein Grenzbeamter will die Türverkleidung abbauen. Wille zieht sich - ruckzuck - seinen Arbeitskittel über und fängt an, die Verkleidung selbst abzubauen.
Ich darf im Auto sitzen bleiben. Plötzlich sagt der Grenzer: "Ab zum Durchleuchten!" Jetzt haben sie uns! Die finden die Papiere. Wir landen im Knast! Ich quäle mich unter Ächzen und Stöhnen vom Beifahrersitz, zucke zusammen, halte meinen Bauch fest. "Steigen Sie ein und fahren Sie bloß los", blafft der Grenzer.
Wir sind in der CSSR! Im Radio bringen sie laufend Nachrichten über "Urlauber", die sie aus dem Zug holen, und über Unruhen in der Deutschen Botschaft. Mitten auf der Landstraße: ein Armist mit Maschinenpistole im Anschlag - direkt auf uns gerichtet. Der knallt uns ab! Langsam fahren wir auf ihn zu, bleiben vor ihm stehen. Er geht leicht zur Seite, immer auf uns zielend. Dann will er unsere Papiere sehen. Gott sei Dank sieht er auch meinen Bauch und lässt uns fahren.
7. Oktober 1989, 22 Uhr
Die Häuser am Straßenrand sehen anders aus: Ungarn! Am nächsten Morgen, die beleuchteten Donaubrücken von Budapest. Plötzlich ein Knacken im Vorderwagen, Achsenbruch. Im Budapester Hotel jammern wir wegen unseres kaputten Trabi. Wir sollen uns an die DDR-Botschaft wenden. Ein Taxifahrer muss uns den Weg zeigen. Er guckt entgeistert, bringt uns aber hin - gegen Gebühr. Als wir den Herrschaften dort mitteilen, dass wir nicht wüssten, wie wir nach Hause kommen, sind sie auf einen Schlag freundlich. Sofort wird eine Werkstatt benannt, die mit der DDR-Versicherung abrechnet und einen Termin vereinbart: in zwei Tagen. Wenn die wüssten, dass die unseren Trabi nur reparieren sollen, damit wir bequem in den Westen abhauen können!
Nach der Reparatur geht's per Taxi wieder zur Botschaft, diesmal zur westdeutschen. Sogar gratis. Vor Ort erfahren wir: Österreich und Ungarn haben die "grüne Grenze" für "Zonis" aufgemacht. Also machen wir uns mit unserem Traber selbst auf den Weg. Unterwegs nehmen wir noch ein junges Mädchen mit, die auch rüber will. Ganz schön leichtsinnig: von ihr und von uns. Irgendwann an der Autobahn: eine Art Bahnwärterhäuschen. Wille will fragen, wie weit es noch ist. Auf einmal kommt er lachend angerannt, springt auf die Trabi-Motorhaube: "Geschafft, geschafft!" Wir sind in Österreich! Tränen.
12. Oktober 1989, 23.30 Uhr
Ankunft im Auffanglager Passau, eine Kaserne des Bundesgrenzschutzes. Auf dem Anmeldebogen: "Hatten Sie Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit?" Muss ich bejahen. Ich werde in einen separaten Raum gebeten. Zwei Männer und eine Frau vom Bundesnachrichtendienst befragen mich. Ich berichte von meinen Ausreiseanträgen, den Diskussionen mit den Genossen vom Ministerium des Inneren, von Psychoterror, meiner Verhaftung. Ich fühle mich schmutzig und dreckig: verantwortungslos, ausgestoßen, ein Nichts. So wie man mir es jahrelang eingeredet hat. Nun sagt mir die Frau vom BND: "Das haben viele erlebt. Es lag nicht an Ihnen. Das hatte Methode." Das ist mir neu! Es ist das erste Mal, das ich mit jemanden darüber spreche.