Wie ein NVA-Major das Ende der DDR erlebte
Walter Graupner war als Major der NVA in Eggesin, einem der größten Standorte der Nationalen Volksarmee (NVA) stationiert und erlebte dort das Ende der DDR und ihrer Armee.
Die Phase der Ungewissheit über die Zukunft der Armee war für ihn auch eine Phase der persönlichen Ungewissheit, in der er Kontakt zu Angehörigen der Bundeswehr suchte. Offiziell war das auch in der Umbruchszeit 1989 noch verboten, Kontakte auf persönlicher Ebene wurden jedoch geduldet.
NVA: Stützpfeiler der SED-Macht
34 Jahre lang stand die NVA Gewehr bei Fuß, um den DDR-Sozialismus zu verteidigen. Doch mit Massenflucht und Demonstrationen Ende der 80er-Jahre wurde ihre Rolle fraglich: Einsatz gegen das Volk oder Auflösung durch das Volk? Unter der gesellschaftlichen Öffnung schien 1989 kurzzeitig sogar eine Reform möglich. Doch in einem geeinten Deutschland hatte der ehemalige Stützpfeiler der SED-Macht keinen Platz.
Die "Friedensmacht" war schwer bewaffnet
Im Kalten Krieg war die NVA die erste Verteidigungsarmee bei einer westlichen Aggression gegen die Staaten des Warschauer Pakts. Mit den zusätzlich in der DDR stationierten Soldaten der Sowjetunion und den Grenztruppen an der innerdeutschen Grenze entstand ein zwiespältiges Bild - die selbsternannte "Friedensmacht" war bis an die Zähne bewaffnet. Die 155.000 Soldaten der NVA verfügten massenhaft über sowjetisches Militärgerät und waren innerhalb von 45 Minuten voll kampfbereit. Die "ständige Bereitschaft" zwang 85 Prozent der Soldaten, permanent in den Kasernen zu bleiben.
Immer mit dabei - die Staatssicherheit
Von Anfang an diente die NVA nicht allein der Nationalen Verteidigung, sondern auch der Machtabsicherung der SED. Die führende Partei war selbst nach einer militärischen Leitungsstruktur aufgebaut, die Befehle von oben nach unten vorsah und keine Kritik duldete. Nationaler Verteidigungsrat, das Ministerium für Nationale Verteidigung und das Zentralkomitee der SED: die Führungskader der Partei waren eng mit dem Militär verzahnt und auch die Staatssicherheit hatte ihre "Spitzel" in der NVA.
Friedensbewegung als Garant für friedliche Revolution
Es war die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft, gegen die sich in den 80er-Jahren die Friedensbewegung richtete und die im Oktober 1989 in Massendemonstrationen gegen das SED-Regime mündete. Aus Angst, die Partei würde zur Sicherung ihrer Macht auf das Militär zurückgreifen - wie einige Monate zuvor die chinesische Führung in Peking - skandierten die Demonstranten: "Keine Gewalt." Der heutige Buchladenbesitzer Walter Graupner war 1989 Major und bis dahin schon 19 Jahre in der NVA. Er sah die Gefahr darin, dass "wir eine gut ausgebildete Armee und gerüstet waren, dass vielleicht irgendeiner die Nerven verliert und dem mit Waffengewalt entgegen tritt."
Soldatenräte führten "menschlicheres Klima" ein
Doch trotz zahlreicher Polizeieinsätze und Festnahmen fiel in dieser Revolution kein Schuss auf einen Demonstranten. Mit dem Verbot jeglicher Gewalt vom 13. Oktober 1989 nahm sich die SED letztlich ihre militärische Option auf den Machterhalt und öffnete sich dem friedlichen Ruf nach Veränderung. Viele Politbüro-Mitglieder mussten zurücktreten, auch der Honecker-treue Verteidigungsminister Heinz Keßler. Eine Kommission um den Nachfolger Theodor Hoffmann sollte nun für eine "Militärreform der DDR" sorgen. Erste Neuerungen zeigten sich schon Ende 1989 durch Soldatenräte an mehreren NVA-Standorten, die ein "menschlicheres Klima", weniger Schikanen und mehr Freizeit in Zivil forderten.
Keine Zusammenarbeit auf Augenhöhe
Mit dem Fall der Mauer war nun auch der Austausch mit westdeutschen Bundeswehr-Angehörigen möglich - wenngleich offiziell weiterhin untersagt. NVA-Major Graupner wechselte Anfang 1990 von der Raketenabteilung in die Öffentlichkeitsarbeit, von wo er Kontakt zu Bundeswehr-Soldaten suchte. Der westdeutsche Stabsoffizier Wilhelm Sager reagierte als erster und pflegte schließlich einen regen Briefverkehr mit Major Graupner. Allerdings unter der Hand. Eine Zusammenarbeit der Bundeswehr mit der NVA auf Augenhöhe verhinderten die seit Jahrzehnten gepflegten ideologischen Gegensätze.
Bundeswehr "ersetzt" NVA
Das schnelle Ende der DDR wurde mit der Volkskammerwahl im März 1990 besiegelt – und damit auch das der NVA. Die gewählte Koalition unter Lothar de Maizière strebte einen schnellen Beitritt zur Bundesrepublik an, in der es schon eine Armee gab. Der neue Minister nun für Abrüstung und Verteidigung Rainer Eppelmann kämpfte lange für eine Übergangslösung mit zwei Armeen in einem Staat, vor allem um den NVA-Soldaten einen sozial verträglichen Ausstieg zu ermöglichen. Doch die DDR-Politiker waren inzwischen eher Statisten bei den 2-plus-4-Gesprächen und bei den Beitrittsverhandlungen zur BRD geworden. Die Bundesregierung um Helmut Kohl (CDU) sah das künftige Gesamtdeutschland und ihre Bundeswehr im westlichen NATO-Bündnis, und sie setzte sich damit durch.
Letzter Zapfenstreich der NVA
Michail Gorbatschow gestattete den Beitritt Ostdeutschlands zum NATO-Gebiet bei einer Begrenzung der Bundeswehr auf 370.000 Soldaten. Da blieb wenig Platz für neue Rekruten. Im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 wurde dem Verteidigungsminister Eppelmann noch zugesichert, dass etwa 50.000 NVA-Soldaten in die Bundeswehr integriert werden können - aber nur nach Prüfung ihrer "Verwendbarkeit". Im Grunde musste also kein einziger Soldat übernommen werden. Lediglich einige Tausend wurden dringend gebraucht, um die Abwicklung des Kriegsgeräts und der Kasernen zu organisieren. Am 2. Oktober 1990, Mitternacht, hörten DDR und NVA auf zu existieren. Auch Walter Graupners Raketenabteilung in Eggesin musste nach und nach alle Waffen aussondern. Etwa 10.000 Soldaten wurden letztendlich in die Bundeswehr übernommen. Heute üben in den Gebäuden der Eggesiner Kaserne Panzergrenadiere der Bundeswehr den Häuserkampf.