Stand: 01.07.2020 07:14 Uhr

Die D-Mark kommt im Wartburg - Währungsunion in Boizenburg

"Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr!", diese Losung bringt die Stimmung der DDR kurz nach dem Mauerfall auf den Punkt. Am 1. Juli 1990 soll alles anders werden - im Geldbeutel und im Warenregal. Auch in Boizenburg wollen alle schnell die harte Währung.

von Carolin Kock, NDR Nordmagazin

Gepanzert und unter Polizeischutz rollen 27,5 Milliarden D-Mark ab Mitte Juni 1990 in den Osten und werden an die Außenstellen der Staatsbank verteilt. In Boizenburg kommen die ersten zwei Millionen davon allerdings im Wartburg an. Manfred Dierke und Renate Wehrend leiten zu dieser Zeit die Bäuerliche Handelsgenossenschaft und müssen das Geld aus Schwerin abholen: "Mit drei Bankmitarbeitern, einem Polizisten und zwei Millionen D-Mark lag das Auto dann schon ordentlich tiefer!"

"Der ganze Raum voll mit Alu-Chips"

Doch bevor die D-Mark ausgezahlt wird, müssen die DDR-Bürger ihre Ostmark einzahlen. Das geht nur gegen Schecks, einen Barumtausch gibt es nicht. Lange Arbeitstage für Bankmitarbeiterinnen wie Renate Wehrend: "Das war die heißeste Phase, die wir jemals erlebt haben. Die Leute kamen mit sämtlichem DDR Geld. Sämtliches Kleingeld lagerte dann in einem kleinen Nebenraum, da hat kein Mensch mehr nach Sicherheit gefragt, immer rein da und der ganze Raum war voll mit Alu-Chips." Personen bis 60 Jahre können 4.000 Mark umtauschen, ab 60 Jahre 6.000 Mark - zu einem Wechselkurs von 1:1. Alle Einlagen, die darüber liegen, werden mit dem Kurs 1:2 getauscht. "Man bekam schon mit, dass in den Familien das Geld vorher hin und her geschoben wurde, damit alles zu einem guten Kurs getauscht werden konnte."

Westdeutsche Banken bringen Möbel und Know-How

Schon Wochen vor dem ersten Juli beginnen die westdeutschen Banken überall in der DDR Filialen zu eröffnen. Oft sind es zunächst Container, die auf den Marktplätzen aufgestellt werden. Vor allem zwischen den Genossenschaftsbanken entstehen Kooperationen. So auch zwischen der Raiffeisenbank Lauenburg und der BHG Boizenburg. Die hatte bis dahin das Geld der Bürger nur verwaltet, aber keine Kredite vergeben. Diese Einlagen locken westdeutsche Anbieter. "Aus Lauenburg haben wir nicht nur neue Büromöbel und den ersten automatischen Kassentresor bekommen, sondern vor allem auch Know-How über das westdeutsche Bankgeschäft.", erinnert sich Renate Wehrend.

In Boizenburg ist das Geld nach zwei Stunden alle

Am 1. Juli wollen dann alle ihre D-Mark sofort. Das sorgt überall im Osten für endlose Schlangen an Banken und Sparkassen. In Boizenburg sind die ersten zwei Millionen D-Mark nach zwei Stunden alle. Manfred Dierke bekommt deshalb einen Notruf und soll schnellstmöglich Nachschub holen - dieses Mal muss er aber ganz alleine fahren und gerät in eine Polizeikontrolle. "Ich hab‘ den Kollegen von der Volkspolizei gesagt: 'Wenn ihr mich nicht gleich durchlasst, dann ist in Boizenburg Revolution! Die Damen können die D-Mark nicht mehr auszahlen!'" So darf er tatsächlich weiterfahren. Mit einer Million D-Mark durchzubrennen, daran habe Manfred Dierke aber nicht eine Sekunde lang gedacht: "Ich habe auch vorher schon immer die Zahlstellen beliefert. Ob nun zwei Millionen Ostmark oder eine Millionen D-Mark im Auto liegen - das ist kein großer Unterschied."

Wechselkurs - politisch richtig, wirtschaftlich falsch

Demonstranten fordern einen Umtauschkurs von eins zu eins für die Ostmark. © dpa/picture-alliance Foto: Peter Kneffel
Im Frühjahr 1990 fordern Demonstranten einen Umtauschkurs von eins zu eins für die Ostmark.

Mit der D-Mark in der Tasche können die DDR-Bürger endlich am Wohlstand des Westens teilhaben. Das Gefühl der Gleichheit wird auch durch den Wechselkurs von 1:1 gestützt. Der ist aber hoch umstritten, denn er wertet die DDR-Wirtschaft auf. Obwohl auf dem Schwarzmarkt zuvor Kurse von 1:4 oder 1:8 üblich waren, wären die gar nicht nicht möglich gewesen, sagt Dierk Hoffmann vom Berliner Institut für Zeitgeschichte: "Ein schlechterer Umrechnungskurs wäre nicht nur als Demütigung empfunden worden, sondern hätte diesen Migrationsstrom noch weiter angefeuert. Das war eine politische Entscheidung, die aber ökonomisch sehr wahrscheinlich falsch war." Denn die Folgen für die ostdeutschen Betriebe waren fatal. Sie müssen plötzlich nicht nur Löhne und Gehälter in Westmark zahlen, sondern auch ihre Produkte in D-Mark West verkaufen. Damit bricht der Ostmarkt langsam zusammen.

75 Prozent Preissturz für Ostprodukte

Die DDR-Bürger haben verschiedene Pläne, was sie mit der D-Mark anfangen wollen. Wer nicht spart, erfüllt sich die großen Träume wie ein Auto oder einen Farbfernseher. Der Kaufrausch bleibt zwar aus, aber alle sind neugierig auf die Westware. Um Platz in den Regalen zu schaffen, beginnt ein Preissturz für Ostprodukte - vor allem bei Schuhen und Textilien. Wolfang Mieck ist zu dieser Zeit Kaufhausleiter in Boizenburg: "Das hat auch weh getan, wenn ein Salamander Schuh der 120 oder 100 DDR-Mark kostet, für 50 oder 40 Mark weggeht. 90 Prozent der Sachen wurden ausverkauft, aber das war ja keine schlechte Ware."

Als Kaufhausleiter in zwei Wirtschaftssystemen

Als Kaufhausleiter in der DDR kann Wolfgang Mieck nur einkaufen, was da ist. Was Donnerstag geliefert wird, ist am Wochenende längst verkauft. Doch nach der Wende beschließt er, das Geschäft zu übernehmen - ohne Sicherheiten, aber mit vollem Risiko. Handel, Wareneinkauf und Kundenberatung: Die gleiche Arbeit kennt er somit in zwei Wirtschaftssystemen: "Diese Nähe zu den Finanzen war ja vorher gar nicht da. Mit Kauf und allem drum und dran haben wir über 600.000 D-Mark aufgenommen. Die Zahl konntest du ja gar nicht schreiben früher." Viel Zeit zum Nachdenken hatte er nicht: Weil Boizenburg nah an der Grenze liegt, muss Wolfgang Mieck von einem Tag auf den anderen mit der Konkurrenz aus dem Westen mithalten - denn alle fahren lieber nach Lüneburg oder Lauenburg zum Einkaufen. Die Regeln der Marktwirtschaft lernt er dabei quasi über Nacht.

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Wissenschaftler und Historiker sprechen heute oft von einer "Überwältigung" des Ostens. Die DDR hätte behutsamer auf die Markwirtschaft eingestellt werden sollen. Doch im Gespräch mit Zeitzeugen ergibt sich ein anderes Bild, sagt Dierk Hoffmann: "Damals war die Stimmungslage eine ganz andere. Privatisierung galt als probates Mittel und die Treuhand wurde noch Anfang 1990 dafür kritisiert, dass sie nicht schnell genug privatisiert. Das zeigt, wie sich die kollektive Erinnerung über die Jahrzehnte auch verändern kann." Auch in Boizenburg ist man sich einig: D-Mark und Marktwirtschaft kamen rasend schnell, aber alle wollten sie. Langsamer wäre es deshalb auch gar nicht gegangen.

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