Tschüss DDR: Rüterberg wird Dorfrepublik
In der DDR war Rüterberg hermetisch abgeriegelt. Im Herbst 1989 hatten die Dorfbewohner genug von den Repressionen - und riefen am 8. November ihre Dorfrepublik aus.
"Da vorn an der Straße stand der Grenzzaun, fast zum Greifen nah. Wir hatten ihn direkt vor der Nase", erzählt Hannelore Zieglowski aus Rüterberg. Am Geesthang, hoch über der Elbe, steht ihr Bauernhaus. In der DDR war ihr Heimatort rundherum abgeriegelt - mit einem Grenzzaun am Fluss und einem zweiten Zaun, der den Ort vom Landesinneren trennte.
Rüterberg: "Niemand konnte rein und raus wie er wollte"
Daran erinnert sich die 57-Jährige noch gut. "Heute hier zu wohnen, das ist einfach traumhaft", sagt die Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, "dass man hingehen kann, wo man will. Früher durften wir nicht einmal die Straße verlassen. Denn da war der gepflügte Streifen. Dort durften die Kinder nicht spielen. Wenn sie den aus Versehen betraten, hatten sie Angst, dass die Grenzer kommen. Und der Zaun am Ortseingang war immer abgeschlossen. Niemand konnte rein und raus wie er wollte!"
Ehemann Rainer musste als DDR-Bürger einmal einen Ostersonntag im Gewahrsam der Grenzsoldaten verbringen, festgenommen unmittelbar vor eigenem Hof, weil er ohne Ausweispapiere das Grundstück verlassen hatte. Daran erinnert sich Hannelore Zieglowski noch genau. "Heute ist zum Glück alles anders, sagt sie. "Man lebt hier sehr ruhig, aber frei. Und das ist sehr schön."
Leben im abgeriegelten Dorf
Ein einziges Tor, rund um die Uhr bewacht, war zu DDR-Zeiten der einzige Zugang zum Dorf. Tagsüber durften es Bewohner nur nach genauer Personenkontrolle passieren. Nachts blieb das Tor grundsätzlich verschlossen. Meinhard Schmechel, der als junger Grenzsoldat nach Rüterberg versetzt wurde, hatte dort geheiratet und war viele Jahre Ortsbürgermeister. "Ab 23.00 Uhr ging hier nichts mehr", erinnert sich der 61-Jährige. "War man unterwegs, konnte man bis morgens um 5.00 Uhr nicht mehr nach Hause. Man hatte dann vor dem Tor zu warten. Dann stand auf der anderen Seite am Tor der Grenzer und sagte lapidar: Sie waren nicht angemeldet und Ende!"
Übernachtung im Trabi vorm Zaun
So manche Nacht verbrachten vor allem junge Rüterberger in ihrem Trabi oder neben dem Moped vor dem streng bewachten Tor - so lange, bis die Ersten frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit waren und auf der anderen Seite warteten, bis das Tor geöffnet wurde: nach penibler Kontrolle der Personalausweise und Passierscheine, versteht sich. Darüber schüttelt Meinhard Schmechel noch heute den Kopf: "Manchmal musste man tatsächlich lachen - obwohl die Zeit sehr ernst war. Es war alles sehr kompliziert bei uns."
Selbst Ärzte wurden bei Notfällen barsch am Tor abgewiesen, wenn ihre Passierscheine abgelaufen waren. Die Einwohnerzahl halbierte sich in den 1970er-Jahren von 300 auf rund 150 - eine Zeit, in der das Leben im Dorf besonders schwer erträglich war, so Meinhard Schmechel: "Es durfte keiner nach Rüterberg rein, die ersten Jahre nicht mal auf Passierschein. Wir hatten auch kaum Verbindung zum DDR-Hinterland. Die durften uns auch nicht besuchen." Weder zu seiner Hochzeit noch zur Beerdigung des Schwiegervaters durften seine Eltern und die Schwester aus Usedom nach Rüterberg einreisen.
Klönschnack mit westdeutschen Zöllnern
Diese bitteren und demütigenden Erlebnisse bewegen den Rentner bis heute - zumal er das Elbdorf noch ganz anders kennengelernt hatte: 1966, als 18-jähriger Grenzsoldat. "Da war noch kein Zaun in Rüterberg. Man konnte noch an die Elbe und sich sogar mit den westdeutschen Zöllnern unterhalten. Mit denen haben wir manchmal am Buhnenkopf gesessen und geklönt."
1967 änderte sich das: Rüterberg wurde komplett eingezäunt. Als der Zaun ins Landesinnere noch wesentlich enger einschnüren sollte, überspannten die Grenzsicherheitsorgane der DDR aber den Bogen. Anfang 1988 sollte sogar der beliebte Angel- und Badeteich ausgeklammert werden, erzählt Meinhard Schmechel. "Da haben wir uns gewehrt. Das haben wir uns nicht gefallen lassen und sind damit auch durchgekommen."
Mutiges Rüterberg
Widerstand keimte und gipfelte in einer Dorfversammlung. Der inzwischen verstorbene Schneidermeister Hans Rasenberger beantragte im Oktober 1989 eine Einwohnerversammlung. Seine Idee: Nach dem Vorbild der Schweizer Ur-Kantone wollte er die Dorfrepublik Rüterberg ausrufen, um so eigene Gesetze für das Dorf zu schaffen. Rainer und Hannelore Zieglowski waren dabei: "Wir haben gesagt, wenn wir nicht zur DDR gehören und nicht nach drüben dürfen, dann können wir auch selbständig sein. Wir hofften, dass sie dann zumindest am Dorfeingang das Tor aufmachen."
Der große Tag: Ausrufung der Dorfrepublik
Das Gemeindehaus war überfüllt am Abend des 8. November 1989. Auch der Staatsapparat hatte Beobachter geschickt: einen Vertreter des Rates des Kreises Ludwigslust, einen höheren Offizier der Grenztruppen und den Leiter des Volkspolizeikreisamtes. Schneidermeister Rasenberger ließ sich jedoch nicht einschüchtern: "Wer für die Dorfrepublik Rüterberg ist, hebe die Hand", rief er den Dorfbewohnern zu. "Von 140 Einwohnern waren 90 anwesend", erinnert sich Meinhard Schmechel, der damals schon Bürgermeister in Rüterberg war. "Und alle 90 wollten die Dorfrepublik gründen. Das war einen Tag vor Grenzöffnung. Das konnten wir ja nicht wissen."
Besucher von Rüterberg führt Meinhard Schmechel heute gern in die Heimatstube über der Dorfgaststätte. Zwischen dem bunten Sammelsurium aus Fotos und Passierscheinen, verblichenen Wimpeln, Stempeln und DDR-Uniformen, denkt er an die Wendezeit zurück, wie riskant die Aktion damals war, und welch ein glücklicher Zufall es war, dass sie die Dorfrepublik so unmittelbar vor dem Mauerfall ausriefen. "Weder der Dorfpolizist noch ich haben über mögliche Konsequenzen nachgedacht. Wenn es so weitergegangen wäre mit derStaatssicherheit, hätten wir wohl unseren Heimatort verlassen müssen."
Ein Denkmal zur Erinnerung
Ein halbverrostetes Metallschild vor dem Ortseingang erinnert bis heute an die legendäre Ausrufung der "Dorfrepublik Rüterberg". Errichtet wurde es dort, wo früher der Zaun ins Landesinnere den Durchgang versperrte. 1991 verlieh der Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern der Gemeinde das Recht, die Bezeichnung "Dorfrepublik 1967 - 1989" zu führen. Die Hälfte der Einwohner kommt heute übrigens aus den alten Bundesländern und fühlt sich pudelwohl im grenzenlosen Rüterberg, in dem nur noch ein paar Zaunelemente und das ehemalige Eingangstor zum Dorf an die einst hermetisch bewachten Grenzanlagen erinnern. Auf dem früher stets frisch geharkten Schutzstreifen, dort, wo der verzinkte Metallgitterzaun jede Sicht und jeden weiteren Schritt versperrte, wächst heute üppig das Gras.